Die Sorgen der Daheimgebliebenen sind ausgestanden. Wir sind wohlbehalten
wieder zu Hause eingetroffen. Der Empfang ist herzlich und tut so gut. Was gibt
es neues in der Welt, sind unsere ersten Fragen. Wir haben nichts von dem
mitbekommen, was passiert ist. Wieder ist eine Olympiade an mir vorbei gerauscht.
Während der letzten Sommerspiele im Jahre 2000 war ich übrigens auch mit dem
Kajak unterwegs, in der Glacier Bay in Alaska. Wir hören von furchtbaren
Ereignissen in Tschetschenien und anderswo in der Welt. Es werden nun auch die letzten
Grenzen niedergerissen von Fanatikern auf allen Seiten. Zu Hause wird man
langsam immun gegen die Bilder des Schreckens. Doch dieses Abgestumpftsein läßt
nach, wenn man nicht täglich damit konfrontiert wird. Wir sind betroffener. Ich
bereue, gefragt zu haben. Wir sollen von uns erzählen und tun es natürlich
auch, stundenlang.
Ich glaube erkannt zu haben, daß ich jenes Land und die Arktis überhaupt erst
während dieser Reise wirklich gesehen, erlebt und erfahren habe. Erst jetzt
verstehe ich, wie man sich ihm nähern muß und was wir brauchen, um uns hier zu
Recht zu finden und nicht das große Nervenflattern zu bekommen, wenn wir ein
paar hundert Kilometer von aller Sicherheit entfernt sind.
Drei Dinge waren es, die mich hier so sehr beeindruckt haben: Da ist dieses
Land an der Grenze des Menschenmöglichen. Damit meine ich die Möglichkeiten des
Menschen, der wie wir, kaum mehr zur Verfügung hat, außer sich selbst. Dieses
Land ist dann oft genug erbarmungslos. Es schüttelt uns durch mit eisigem
Wind. Überall stehen wir vor schier unüberwindlichen Hindernissen. Die
Schwierigkeiten sind zum Verzweifeln. Wir müssen alles einsetzen, um dem zu widerstehen.
Und reicht die innere und äußere Kraft nicht aus, werden wir auf Hilfe von
außen vergeblich warten. Manchmal ist dieses Land doch auch gnädig und läßt uns
irgendwie gewähren. Doch hin und wieder ist Spitzbergen verzaubert. Wir stehen
da und staunen. Über Farben, Formen und Licht, über unbekannte nie gesehene
Landschaften von eigenartiger Schönheit, über die alles durchdringende Stille,
über eine Erhabenheit, die uns zum Schweigen bringt. Das sind die Momente, wo
uns dieses Land gefangennimmt, in seinen Bann zieht, für immer. Dies erleben
zu dürfen, lohnt jede Strapaze egal wie groß.
Dann ist da dieses große Ausgesetztsein. An nicht mehr vielen Orten auf
unserem Globus kann man so etwas heute noch finden. Je weiter wir uns entfernen von
der Sicherheit der Zivilisation, an die wir uns dermaßen gewöhnt haben und
die uns unentbehrlich geworden ist, desto stärker wird uns unsere
Verletzlichkeit bewußt. Wir mutieren zu Winzlingen in jeder Beziehung, und oft benehmen wir uns dann plötzlich auch so wie Zwerge in Körper und Geist. Wir verlieren alle Kraft und zittern vor der übermächtigen Natur. Wir werden zu Zauderern bei
allem, was wir tun. Entscheidungen zu fällen, wird immer schwieriger, denn die
zunehmend folgenreichen Konsequenzen stehen uns immer deutlicher vor Augen. Wir
bekommen Angst vor der eigenen Courage und befinden uns plötzlich in ihrer
Gewalt. Wehe, wenn wir jetzt nicht genug Erfahrung haben, mit dieser Angst
umzugehen. Dann droht uns die Mutlosigkeit, und wir haben verloren.
Das dritte Phänomen, hängt mit der Weltferne natürlich eng zusammen, aber es
macht etwas anderes mit uns. Ich rede von der Einsamkeit. Wenn ich mir hier
nicht selbst genug bin, nichts mit mir anzufangen weiß, dann werde ich rasch ein
Problem bekommen und bald an das "Ende des eigenen Ichs" geraten, wie
Christiane Ritter schreibt, dorthin, wo es keine Antworten mehr gibt, nur noch
abgrundtiefe Leere. Doch auch diese Erfahrung kann uns helfen, gestärkt und vor
allem bereichert aus unserem Unternehmen hervorzugehen. Denn nur das kann
überhaupt der Zweck des Ganzen gewesen sein.
Zu Hause fehlt einem der Anstoß und vor allem die seelische Verfassung, über
solche Dinge nachzudenken. Wir kommen einfach nicht weiter mit uns, wenn wir
nicht ab und zu mal kräftig "umgerührt" werden. Erleben wir nicht ab und zu
Erschütterungen, die bis ins Mark gehen, bildet sich in uns eine Art Bodensatz,
der immer fester und hartnäckiger wird. Irgendwann, wenn wir nicht aufpassen,
ist es dann zu spät, und wir sind nicht mehr veränderbar, fest geworden, wie
dieser Bodensatz, den man nach einer Weile nur noch abkratzen kann. Diese Reise
hat genau das vermocht, was ich mir von solchen Touren wünsche. Sie hat mich
aufgewühlt, das unterste nach oben gekehrt, mich verändert und gestärkt.
Der Aufenthalt im Sommer 2004 war meine vierte Reise nach Spitzbergen. Oder
vielleicht doch meine erste? Wiederzukommen bedeutet nicht, Zeit zu vergeuden,
weil es doch noch soviel anderes zu sehen gäbe. Wiederzukommen, bedeutet für
mich die Chance zu nutzen, vielleicht wirklich irgendwann zu sehen, zu erleben
und dann verstanden zu haben, warum ich hier bin. Wiederzukommen bedeutet auch
die einzige Möglichkeit, zu den hier so überlebensnotwendigen Erfahrungen zu
kommen, ohne die sich die Arktis einem nie erschließen kann. Christiane Ritter
fand auch dafür die richtigen Worte: "Nein, die Arktis gibt ihr Geheimnis
nicht her für den Preis einer Schiffskarte. Man muß hindurchgegangen sein durch
die lange Nacht, durch die Stürme und die Zertrümmerung der menschlichen
Selbstherrlichkeit." Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
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