12.05.2005: Thomas ist zurück, zwei Lasten in Lager 4.

Seit Dienstag am späten Nachmittag ist Thomas wieder im Basislager. Heute morgen ist er gemeinsam mit Nuri ins Lager 2 aufgestiegen. Er will sich und seine wiederhergestellte Gesundheit testen. Deshalb hat er keinen festen Plan. Wenn alles gut läuft, seine Kondition zufriedenstellend ist, hat er vor, mindestens zwei Mal ins Lager 3 aufzusteigen, ohne zwischendurch ins Basislager zurückzukehren. Womöglich möchte er auch schon während dieses Akklimatisationsaufstieges im Lager 3 übernachten. Aber all das sind nur Möglichkeiten. Die erste Funkzeit ist heute um 12.00 Uhr mittags. Danach wissen wir alle mehr darüber, wie Thomas den ersten Aufstieg nach seiner Genesung wegstecken kann. Thomas hat seine Ambitionen auf den Gipfel keineswegs aufgegeben. Da das Wetter hier am Everest alles andere als stabil ist und viele der Meinung sind, daß es in diesem Jahr spät wird mit den Versuchen, auf den Gipfel zu kommen, sieht es für Thomas auch sehr gut aus. Ich weiß, daß niemand im Osten Deutschlands auf elf Expeditionen zu Achttausendern zurückblicken kann. Diese große Erfahrung wird Thomas hier noch sehr zu gute kommen.

Noch hat es hier also keinen Gipfelversuch gegeben. Im Gegenteil, der Everest zeigt sich in diesem Jahr ziemlich unerbittlich. Das haben auch wir zu spüren bekommen. Unser Versuch am Dienstag die gesamte Ausrüstung für das Lager 4 auf den Südsattel zu bringen, ist nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt habe.

Schon die Nacht vom Montag auf den Dienstag war sehr unruhig. Wind war aufgekommen. An Schlaf war kaum zu denken, das Zelt knatterte ohrenbetäubend. Dennoch beschlossen wir, einen Aufstiegsversuch zu unternehmen. Um fünf Uhr morgens am Dienstag brachen Nuri, Kami, Dawa, Lakpa und ich Richtung Südsattel auf. Lakpa und ich hatten noch unsere Schlafsäcke und Isomatten dabei, um auf dem Rückweg in Lager 3 übernachten zu können. Trotz des immer stärker werdenden Sturmes kamen wir relativ gut voran. Wir waren auch nicht die einzigen, die an diesem Tag Lasten zum Südsattel schaffen wollten.

Als wir das Lager 3 erreicht hatten, gab es eine unangenehme Überraschung. Das Zelt war fast vollständig vom Schnee zugeweht. Wir konnten nicht feststellen, ob es überhaupt noch intakt war. Außerdem wollten wir unsere Schlafsäcke und Isomatten nicht hoch zum Südsattel und wieder zurück tragen, sondern hier hinterlegen. Also mußten wir erstmal das Zelt ausgraben. Dadurch verloren wir natürlich Zeit. Der andere Grund, weshalb wir uns entschlossen, nicht weiter Richtung Südsattel zu steigen, war der Wind und die mit ihm einhergehende Erfrierungsgefahr. Ich hatte mir schon leichte Erfrierungen an meiner linken Wange zugezogen und konnte mein Gesicht nur ungenügend schützen. Gesichtsmasken behindern mich beim Atmen. Wir gruben also zwei Stunden lang unser Zelt aus und bereiteten uns auf einen längeren Aufenthalt in 7300 m Höhe vor. Kurz nach 11.00 Uhr krochen wir beide in unser winziges Zelt.


Die 45 bis 60 Grad steile Lhotseflanke besteht derzeit zum großen Teil aus blankem Eis.

Dawa, Nuri und Kami setzten ihren Weg Richtung Südsattel fort, doch auch Kami machte der Wind sehr zu schaffen, daß er sich entschloß, auf 7500 m umzukehren, weil auch er sich vor Erfrierungen fürchtete. Nur Dawa und Nuri waren an diesem Tag in der Lage, den Südsattel zu erreichen, was in meinen Augen eine regelrecht heroische Leistung gewesen ist. Lakpas und meine Leistung stand uns noch bevor.

Es stellte sich nämlich bald heraus, daß diese Nacht uns beide auf eine harte Probe stellen würde. Erstens, weil diese Nacht schon um 11.00 Uhr vormittags begann. Niemand kann sich vorstellen, wie eng es in einem zwei Quadratmeter großen Zelt ist, mit Daunenanzügen, Daunenschlafsäcken, riesigen Bergschuhen, Kochern, Töpfen, Fotoausrüstung, Nahrungsmittel für mindestens drei Übernachtungen usw.. Dazu kam der Sturm. Wir wurden immer wieder von neuem zugeweht. Das hatte Vor- und Nachteile. Das Zelt wurde durch den Schnee vor dem Zugriff des Windes weitgehend geschützt. Wir da drin hatten aber Angst, daß es durch den Schnee zerdrückt würde. Außerdem fürchteten wir, zu ersticken, wenn wir irgendwann ganz zugeweht wären. Rauszugehen und das Zelt freizuschaufeln, war aber eine Tortur. Jedesmal mußte einer von uns sich vollständig anziehen, eine Arbeit von einer halben Stunde, ganz zu schweigen davon, daß wir anschließend in unserem Zelt einen halben Wassereimer Schnee hatten. Genau das war dann auch die 23 Stunden, die wir im Camp 3 verbrachten, unser Hauptproblem. Öffneten wir das Zelt, um Luft zum Atmen zu haben, dann schoß der Schnee ins Zelt, als hielte jemand ein Schneestrahlgebläse zu uns hinein. Machten wir das Zelt zu, hatte ich sofort das Gefühl, ersticken zu müssen. 23 endlose Stunden konnte ich dieses Problem nicht lösen. Mir wurde mehr als einmal schlecht, doch ich schaffte es immer, meinen Kopf irgendwie zum Zelt hinaus zu stecken, was diese häßliche Prozedur nur noch häßlicher machte. Lakpa schaffte es einmal Mal nicht. Das sind so die Realitäten eines längeren Aufenthaltes in großer Höhe. Warum soll ich das nicht so erzählen, wie es ist? Vielleicht deshalb, weil es dann umso unverständlicher wird, warum man sich das antut. Nie in den ganzen 17 Jahren, die ich in die Berge gehe, habe ich mich das leidenschaftlicher gefragt, als in dieser Nacht am Everest in Camp 3. Aber der Everest läßt einen nicht bis ganz nach oben ohne Kampf. Das muß man akzeptieren oder nach Hause fahren.

Als ich gestern endlich wieder ins Basislager absteigen durfte, hatte sich der Wind keinesfalls gelegt. Mit unverminderter Gewalt schoß der Sturm über die Blankeisflächen der Lhotseflanke. Der Abstieg wurde ein weiteres Mal zu einem harten Kampf, zumal mich diese Nacht vollkommen erschöpft hatte.

Als ich gestern um 14.30 Uhr im Basislager eintraf, war ich um eine Erfahrung reicher. Bestimmt gibt es viele Leute, die der verständlichen Meinung sind, daß man gut auf solche Erfahrungen verzichten könne. Dieser Meinung bin ich auch. Aber wenn man sie dennoch gemacht hat, weiß man viel mehr über sich, ist besser gewappnet gegen die Widrigkeiten des Lebens, die man so oft für so furchtbar hält.

Demnächst werde ich ein weiteres Mal dort oben übernachten und Thomas hat es auch noch vor sich. Vielleicht haben wir beide dann mehr Glück mit dem Wetter. Ich wünsche es uns.