Eine große amerikanische und eine koreanische Gruppe sind trotz des nicht optimalen Wetters aufgestiegen. Sie sind heute am Südsattel angelangt und wollen morgen den Gipfel in Angriff nehmen. Sie benutzen Sauerstoff. Ansonsten tritt hier das vielbeschworene Desaster ein. Nicht so wie ich gehofft hatte, also nach und nach, sondern zusammengedrängt auf ganz wenige Tage wälzen sich die Expeditionen Richtung Gipfel. Der Grund ist klar. Die Ampel steht hier am Berg schon
seit Wochen auf Rot und sie wird nicht Grün. Aber niemand kann hier solange warten, bis es womöglich endlich soweit ist und das lang erwartete Hoch eintrifft. Am ersten Juni wird der Eisbruch unpassierbar gemacht. Daß heißt nichts anderes, als das bis dahin alle und alles vom Berg runter sein muß. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Jeder hier weiß das und jeder hier
hat dasselbe Problem. Es wäre eine Katastrophe, ein Gesichtsverlust sondersgleichen, besonders für die kommerziellen Expeditionen, wenn man einfach untätig die letzten Tage im Basislager verstreichen ließe, ohne diesen wenigstens einen heroischen Versuch durchzuziehen, auf welchen zu Hause alle so sehr gespannt sind. Deshalb müssen sie gehen, also gehen sie bei ROT.
Um meine Akklimatisation wenigstens ein bißchen zu halten, bin ich gestern ein Stück den Pumo Ri (7145 m) aufgestiegen. Der Blick auf unsere Route am Everest vom BC bis zum Gipfel ist phantastisch. Man sieht Nord- und Südwestwand des Everest, den Khumbu-Eisbruch, die gesamte Lhotseflanke und den Südostgrat des Everest bis zum Gipfel.
Wie nun müssen wir uns verhalten, um einmal nicht als kleinmütig zu gelten und zum anderen nicht Leben und Gesundheit von uns selbst aber vor allem auch von unseren Sherpas aufs Spiel zu setzen? Die Bedingungen sind denkbar schlecht. Wir haben keinen zusätzlichen Sauerstoff. Es werden viele zugleich unterwegs sein. An den bekannten Nadelöhren der Route sind Verzögerungen unabwendbar. Wir können uns aber nirgendwo hinten anstellen und warten. Wir können auch nicht im Lager 3 oder
auf dem Südsattel einen Schlechtwettertag aussitzen. Alle werden sagen, daß wir das alles gewußt haben, und sie haben Recht. Aber sollen wir wirklich zusammenbauen und nach Hause fahren, wie immer mehr das hier tatsächlich tun?
Es wird zusammengebaut und nach Hause gefahren an allen Ecken des Basislagers.
Unser schlimmstes Problem sind die völlig schwammigen Wetterprognosen. Sie dienen nicht als Entscheidungshilfen, die gerade jetzt so wichtig wären. Aber zu den Wetterprognosen komme ich nachher noch. Also passiert, was kommen mußte. Thomas und ich haben sehr unterschiedliche Meinungen über das, was geschehen sollte. Ich möchte losgehen, Thomas will noch warten. Ich
weiß, daß es sogar sehr vernünftig sein könnte, noch ein paar Tage verstreichen zu lassen. Aber es gibt natürlich auch Argumente dagegen. Ich hab zum Beispiel immer mehr Angst vor dem bei der Wärme zunehmend instabileren Eisbruch. Ich denke auch, daß sich in den nächsten Tagen am Wetter nichts grundlegendes mehr ändern wird. Es gibt hier kein großes Hoch mehr. Ob wir morgen oder in drei Tagen gehen, ist meiner Ansicht nach ziemlich egal. Aber da spielt bei mir natürlich noch mehr rein. Wenn ich jetzt nicht gleich gehe, war meine Horrornacht in Camp 3 umsonst. Sie ist eine Woche her. Meine Akklimatisation an die großen Höhen verschwindet gerade. Thomas ist erst am 15. Mai herunter gekommen. Da sieht man mal wieder, wozu so manches gut sein kann. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Unser Ort für die Suche nach Lösungen: Unser Steintisch im Meßzelt.
Aber ein Konsens muß her. Das ist liegt nun mal in meiner Natur und ist vernünftig. Ohne Ergebnis in seinen Meinungsverschiedenheiten zu verharren, ist für mich vollkommen inakzetabel. Also sind wir losgezogen, Thomas, Lakpa und ich, haben bei den Großen Expeditionen Wetterprognosen eingeholt. Lakpa hat seine Shirdar-Kollegen interviewt, um herauszufinden, wann welche Gruppe startet und wieviele Leute voraussichtlich unterwegs sein werden. Die wichtigste
Information ist die, daß alle dieselben Probleme haben wir. Viele Leute sind noch viel länger unten als ich, hatten vor mehr als 14 Tagen ihre letzten Aufstiege. Seitdem warten die auf ihre Chance, haben sich nicht getraut, aufzusteigen, um keine Kraft zu vergeuden und können nun nicht mehr auf eine ausreichende Akklimatisation bauen. Für jene bricht eine Welt zusammen
und die sind es auch, die jetzt teilweise schon die Segel streichen.
Wir haben nun auch die aktuellsten Wetterprognosen aus Schweden und Innsbruck. Sie versprechen eine leichte Besserung um den 23. Mai herum. Was immer das heißen mag. An diesem Tag könnte es etwas weniger Wind geben. Das ist unser größter Feind, wenn kein Sauerstoff im Spiel ist. Wir wollen nun auf alle Fälle noch die Aktualisierung der Prognose abwarten. Bestätigt sich
die Wetterbesserung, werden wir am 20. Mai oder einen Tag später aufbrechen. Das ist der Stand der Dinge am 17. Mai um 15.48 Uhr bei Wind und Schneefall im Basislager.
Es gibt keinen Grund zur Traurigkeit. Noch gibt es uns!
Mich zu bedanken liegt mir noch am Herzen. Wir haben so viele ermutigende, aufmunternde und herzliche Zuschriften in unser Gästebuch erhalten. Alle zwei drei Tage können wir die Einträge hier lesen. Es hat uns Mut und Kraft gegeben, daß so viele Menschen in Gedanken bei uns sind. Vor allem Jana haben die vielen positiven Äußerungen zu ihrem Entschluß geholfen. Ganz herzlichen Dank dafür. Bedanken muß ich mich ganz besonders auch bei unserem Webmaster Uwe Gille, der unermüdlich für uns im Einsatz ist. Ohne ihn keine News an dieser Stelle. Und zum Schluß einen Kuß und lieben Dank auch an Dich Christiane. Du schickst nämlich die Tagebucheinträge, die vielen Adressen der Grußpostkarteneinsender und hältst uns hier auch sonst auf dem Laufenden.
Apropos Grußpostkarten: Die Aktion endet naturgemäß mit dem Aufenthalt der Expedition im Basislager. Unser letzter Tag hier wird der 30. Mai sein. Das zumindest ist sicher. Nur noch bis dahin sind Einzahlungen auf das Expeditionskonto und die Bestellung der Karte möglich. Auch an die vielen Grußpostkartenkäufer ein herzliches Dankeschön von uns allen.
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