Training mit dem eisernen Erwin

Ich konnte es kaum erwarten, wieder im schweizerischen Bergell unterwegs zu sein. Im Oktober des letzten Jahres habe ich das Gebiet ja zum ersten Mal besucht und war berauscht von den herrlichen Routen in diesem festen und rauen Bergeller Granit. Diesmal sollte es möglichst auf das Wahrzeichen der Region, den 3305 m hohen Piz Badile gehen. Seine Nordkante zählt zu den klassischen und schönsten Klettereien der gesamten Alpen. 1200 m Routenlänge und ein langer anstrengender Abstieg auf die italienische Seite des Berges macht die Nordkante zu einem anspruchsvollen Unternehmen. Doch eine Kaltfront gleich am zweiten Tag zerschlug alle unsere Gipfelträume. Fast einen Meter Neuschnee brachten die beiden Schlechtwettertage in den höheren Regionen, so dass wir nur weiter unten ans Klettern denken konnten.

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Wir schauen auf die Nordwestwand des verschneiten Badile, die links von der Nordkante flankiert wird. Dieses Mal hat er uns noch vertrieben, doch im nächsten Jahr kommen wir wieder.

Übrigens ist der Piz Badile ein Berg, der die Bergsteiger schon immer magisch angezogen hat. So zieht sich dann auch eine der geschichtsträchtigsten Routen der Alpen, ein richtiger Superklassiker durch seine Nordostwand. Diese Wand ist oben auf dem Bild links der Nordkante ebenfalls sichtbar. Riccardo Cassin, in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einer der stärksten Kletterer der Welt, stieg am 14. Juli 1937 mit zwei Gefährten in die gewaltige Nordostwand des Badile ein. Damals stellte diese Wand eines der großen ungelösten Probleme in den Alpen dar. Doch wenige Stunden vor Cassin hatte eine andere Seilschaft die Wand ebenfalls in Angriff genommen. Allerdings kletterten M. Molteni und G. Valsecchi aus Como wesentlich langsamer als Cassin und seine Begleiter. Als noch ein Stein den Rucksack von Molteni zerschlug und Schlafsäcke sowie Ersatzkleidung verloren gingen, war das Schicksal der beiden besiegelt. Obwohl Cassin die zwei in seine Seilschaft aufgenommen hatte und in Regen, Hagel und Schneefall für alle einen Weg bis auf den Gipfel bahnte, schafften es die beiden nicht. Nach 52 Stunden in der Wand starben Molteni und Valsecchi auf dem Abstieg an Erschöpfung.

So weit wollten wir es nicht kommen lassen. Erwin riet uns vom Badile ab, und wir hörten natürlich auf ihn. Aber guter Rat war jetzt trotzdem nicht teuer. Mein Freund Erwin kennt das Bergell wie seine Westentasche. Er wußte, wie er uns trösten konnte. Also sind wir nach Italien hinunter in das „Paradies di Can“. Hier gibt es eine Reihe von unvergleichlich schönen Reibungsklettereien an einer mehr als 200 m hohen steilen Granitwand, und es ist fast immer schön warm.

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Für Erwin ist das Paradies di Can ein ganz besonderer Platz. Ein Ort, der Kraft verleiht, wie er sagt. Janina und mir haben die sieben Seillängen Reibungskletterei im oberen Sechsten Grat allerdings alle Kraft geraubt! Hatte ich da was missverstanden?

Als das Wetter wieder besser wurde, verabschiedeten wir uns von Erwin und stiegen zur Albigna Hütte auf. Rings um diese wunderschön gelegene Hütte finden sich die Traumrouten in bestem Granit gleich im Dutzend. Hier oben könnte man wochenlang Tag für Tag eine andere Route klettern und jedes Mal erhielte sie das Prädikat „Wertvoll“. Ich allerdings war auf eine ganz besonders scharf. Schon letztes Jahr hatte mich Erwin auf die Via Felici aufmerksam gemacht. Diese großartige 350 m lange Route im oberen Sechsten Grat fordert das gesamte kletterische Repertoire: Schwierige Reibung, Risse in allen Ausführungen, Verschneidungen und nicht zu letzt Wandkletterei. Doch erst einmal mußte meine Moral besser werden. Also kletterten Janina und ich mehr als 30 Seillängen in anderen Routen, bevor wir uns an die Via Felici wagten.

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Wenn ich das eine Rissdach überklettert hatte, kam das nächste, dann das nächste und immer so weiter, bis zu einer Rissverschneidung, die in einen senkrechten Hangelriß überging, der in einer überhängenden Wandkletterei mündete. Ich bin noch nie in einem so schönen und abwechslungsreichen Weg geklettert, übrigens bestens gesichert von Janina, die auch die Fotos von mir geschossen hat.

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Fünf Tage sind wir von früh bis abends geklettert und haben diesmal noch mehr unserem klettertechnischen Fundus hinzugefügt als beim ersten Mal. Auch wenn wir diesmal vom Piz Badile noch abgeschlagen wurden, geben wir uns noch lange nicht geschlagen. So etwas schürt ja bloß das Verlangen. Wir kommen also wieder, Erwin! Und Du bist ganz herzlich in die Sächsische Schweiz eingeladen.

P.S. Am 29. Juli 1987 wiederholte Riccardo Cassin gemeinsam mit Freunden aus Lecco im Alter von 78 Jahren seine eigene Route in 10 Stunden!

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