Der tödlichste Berg der Welt
Berge würden aus der Zivilisation herausragen. Deshalb sei es so befreiend, auf ihnen unterwegs zu sein. Was für eine schöne Metapher. Und es stimmt auch meistens. Ich hatte dieses Bild in der vergangenen Woche am Mont Blanc vor Augen. Wir kletterten den Nordgrat des Dom du Goûter hinauf. Unsere Biwakausrüstung steckte in den Rucksäcken. Und deshalb konnten wir die totale Einsamkeit und Stille ganz besonders unbeschwert genießen, obwohl die Last auf dem Rücken drückte. Wir fühlten uns frei. Es war wunderbar.
Am Abend stiegen wir von unserem Lagerplatz die 800 m Meter zum Gipfel. Nur eine tschechische Seilschaft begegnete uns. Am höchsten Punkt des Berges waren wir vollkommen allein. Unser Plan war zu einhundert Prozent aufgegangen.
Doch am nächsten Tag war es mit der Ruhe vorbei. Das wechselhafte Wetter hatte sich beruhigt. Ein Hoch kündigte sich an. Die Vorhersage verhieß zwei strahlende Tage. Und schlagartig brach so eine Art Flut über den Mont Blanc herein. Ein fast ununterbrochener Strom von mehreren hundert Bergsteigern ergoss sich über den Monarchen, wie der Mont Blanc auch genannt wird. Dieser Strom kam uns entgegen, denn wir stiegen über den Normalweg Richtung Tête Rousse ab. Wir hatten es nicht eilig, waren ausgeruht und ausgeschlafen.
Ich hatte also Muße, mich mit meinen Gedanken zu unterhalten und mir die Leute anzuschauen: Familienväter mit dicken Bäuchen schnauften mir da wie die Dampfrösser am kurzen Seil der Bergführer entgegen. Junge Kerle, denen man ansah, dass sie noch nie zuvor ein Steigeisen unter den Bergschuhen getragen hatten, blockierten den Weg. Und mittelalterliche Damen, denen das pure Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.
Von allen Seiten erhöhte sich der Druck. Von oben kamen Leute entgegen, von unten schloss man auf. Es gab Gedränge und Staus. Manchmal ging es nicht vorwärts und auch nicht zurück. Ich bedauerte die Bergführer, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen müssen.
Und ich fragte mich wieder einmal, was diese Leute eigentlich antreibt. Hier nahmen Menschen Strapazen in Kauf, die sie bis an ihre Grenzen brachten und darüber hinaus. Und ganz nebenbei war das, was sie dort taten, auch nicht ganz ungefährlich. Ich konnte ihre inneren Schweinehunde förmlich bellen hören.
Wozu also nimmt ein eigentlich vernünftiger Mensch das auf sich? Politur des Selbstwertgefühls? Endlich einmal etwas Bleibendes leisten ohne Rücksicht auf die vielen Zwänge dort unten in der Ebene. Ein Erfolgserlebnis generieren, dass jedem beweist, wozu man in der Lage ist. Und das vor allem auch vorzeigbar ist, womöglich sogar in Echtzeit! Letzteres muss zumindest ein sehr starker Impuls bei der ganzen Sache sein. Die Smartphones und die GoPros sind allgegenwärtig.
Etwa 20000 Menschen besteigen den Mont Blanc jedes Jahr, manche Quellen sprechen sogar von 30000! In der Hochsaison erreichen an guten Tagen 500 und mehr Leute den Gipfel. Kein alpiner Berg auf der Welt wird öfter bestiegen. Er ist also mehr als gnädig zu uns Menschen, geradezu sanft. Und wenn man es genau nimmt, ist er auch nicht besonders gefährlich im Vergleich zu den wirklich gefährlichen Bergen, wie zum Beispiel der Annapurna.
Im langjährigen Mittel bezahlen von zehn Alpinisten, die den Gipfel dieses Achttausenders im nepalesischen Himalaya erreichen, vier mit ihrem Leben. Trotzdem ist der Mont Blanc der uneingeschränkte Rekordhalter, wenn es um die absoluten Zahlen geht. Jahr für Jahr gehen am Mont Blanc Dutzende Menschen zu Grunde. Allein im Jahr 2008 waren es 50! Er ist der Gipfel mit den höchsten Opferzahlen weltweit. Eine traurige Tatsache, die sicher anders aussähe, wenn wir Menschen bei der Auswahl unserer Ziele manchmal etwas bescheidener und demütiger wären. Es muss ja nicht gleich der höchste Berg der Alpen sein.
Für den armen Mont Blanc gilt die eingangs zitierte Metapher also nicht mehr uneingeschränkt. Dort stülpt sich die Zivilisation oft wie eine dicke Mütze über seinen eisgepanzerten Gipfel. Trotzdem braucht man nur gut vorbereitet und fit an diesen Berg zu kommen und auf anderen Wegen und zu anderen Zeiten als die meisten unterwegs zu sein. Dann nämlich wird man auch dort noch finden können, was wir alle in den Bergen suchen.
Beste Grüße an Dich lieber Olaf!
Jürgen aus Leipzig
Auch ich bestieg den Mont Blanc bereits mehrere Male. Allerdings fand ich dort, neben einer Minderheit von schlecht ausgerüsteten oder fürchterlich vorbereiteten Menschen, vor allem jede Menge Bergsportler und andere motivierte Menschen, die Spaß daran hatten, diesen Berg zu besteigen. Die Motivation für solche Leistungen ist Nebensache. Übrigens gab es dieses Jahr einen Run auf die Annapurna. Es müssten wohl um die 30 Besteiger gewesen sein. Kein einziger Todesfall war zu beklagen. Wer in den Bergen Ruhe sucht, das sagst du ja, findet diese an vielen Stellen. Deshalb gibt es wohl keinen Grund als Bergsportler zu klagen. Berge sind kein Privileg Einzelner.
Hallo Karsten,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich habe mich nicht beklagt. Gerade mir stände das auch so gar nicht zu. Aber ein wenig Wehmut klingt sicher an. Ich habe ein paar Zahlen aufgeführt, die stimmen, beschrieben, was ich inzwischen schon oft sah und mir meine Gedanken dazu gemacht. Fest steht für mich allerdings, dass die unerfahrenen und sich selbst überfordernden Leute auf dem Weg von Tête Rousse zum Gipfel definitiv nicht in der Minderheit sind. Das sieht man nach meiner Ansicht allein schon daran, dass mehr als 80 Prozent der Leute einen Bergführer engagieren müssen, um diese sehr einfache Route dort gehen zu können. Warum ist das so? Ich sehe diesen Beitrag als eine Art Appell, diesem Riesenberg vielleicht ein wenig mehr Respekt entgegenzubringen. Es lohnt sich, für ihn das Bergsteigen zu erlernen. Beste Grüße
Na da halten es die Bergführer vielleicht ebenso wie Sie in ihrem Angebot: „Das Angebot reicht von einer einfachen Trekkingtour, die beinahe jeder bewältigen kann, bis zu schwierigen Passüberschreitungen oder sogar der Besteigung eines Sechstausenders.“. Es ist doch ein Gutes, wenn man zumindest begreift, dass man selbst (und allein) nicht in der Lage ist.
Da werfen Sie jetzt zwei Dinge (verschiedene Touren in Nepal-Normalweg auf den Mont Blanc) in einen Topf, die da nach meiner Ansicht nicht hinein gehören. Aber selbstverständlich bin ich auch der Meinung, dass es gut ist, wenn man sich Hilfe holt, weil man einsehen muss, sein selbst gestecktes Ziel nicht allein erreichen zu können. Ein schönes Wochenende