Chauthi

Wir laufen jeden Tag zwischen sieben und acht Stunden. Es scheint mir, als würde sich das Laufen von einer körperlichen zu einer meditativen Tätigkeit wandeln. Ich laufe mich frei. Mir kommt es so vor, als würde ich einen Sack Reis auf meinem Rücken tragen, welcher ein Loch hat, aus welchem unmerklich der Reis rieselt. Die Last wird immer geringer, aber anfangs merke ich das gar nicht. Doch irgendwann stelle ich fest, dass der Sack leer ist und ich unbeschwert meinen Weg gehen kann.

Auf dem Weg von Nuntala nach Paiya durchquerten wir wieder einen der noch weitgehend unberührten Bergurwälder.

Und wenn das dann soweit ist und ich den ganzen heimischen Balast abgeworfen habe, dann kann ich über Dinge nachdenken, über die nachzudenken ich sonst keine Muße habe. Über Chauthi zum Beispiel.

Chauthi ist schon seit einigen Jahren immer wieder auf meinen Touren als Träger dabei. Er ist 30 Jahre alt und hat sogar eine Schule besucht. Trotzdem muss er als Träger arbeiten. Er findet keinen besseren Job. Er hat keine Frau und demzufolge auch keine Kinder, worüber er nicht gerade froh ist. In seinem Alter ist er da in Nepal schon eine Ausnahme und wird deshalb manchmal scheel angesehen.

Chauthi ist eine Frohnatur, komme da was da wolle.

Doch er grämt sich darum nicht. Auch nicht über seinen schlechten Job als Träger oder seine bittere Armut. Im Gegenteil. Egal wie schwer die Last oder wie schlecht der Weg, egal ob es regnet oder schneit: Chauthi lacht. Er ist die geradezu personifizierte Fröhlichkeit und Hilfsbereitschaft. Alle die Chauthi begegnen und anschauen sind zwangsläufig auch ein kleines bisschen besser gelaunt. Wie schafft er das nur?

Ich wünschte, ich schaffte das auch. Und auch den vielen Leuten wünschte ich das, die mich daheim umgeben und denen ich morgens nicht schnell genug an der Ampel losfahre. Denen es soviel besser geht als Chauthi, die soviel weniger hart schuften müssen.

Orchideen finden wir auf dem Weg und in den letzten Tagen massenhaft Magnolien. Allerdings werden wir uns von der prächtigen Vegetation der vergangenen Tage ab sofort verabschieden müssen.

Montaigne in seinen berühmten Essays meint, dass Königreiche gründen, Städte bauen und Reichtümer anhäufen, eine relativ einfache Nebensache seien gegen die Kunst, ein gelungenes Leben zu führen. Was aber sind die Merkmale für ein gelungenes Leben?

Wenn jemand ein gelungenes Leben führt, dann Chauthi. Er nimmt sein schweres Los leicht und ärgert sich buchstäblich über nichts. Dafür freut sich über jede Kleinigkeit. Zum Beispiel freut er sich gerade wie ein Schneekönig, dass er nur die Kameraausrüstung von Jens tragen muss. Er ist der zufriedenste Mensch, den ich kenne und hat so vielen wohlhabenden, bedeutenden Leuten genau das voraus.

Dieser schwerbeladene Träger tröstete uns nach einem langen Tag, dass es nur noch eine Stunde bis Paiya wäre. Mich rührt die Liebenswürdigkeit der Leute hier jeden Tag aufs Neue!

Wir haben inzwischen Namche erreicht. Die Zeit der Ruhe, der Einsamkeit und der langen Etappen ist nun vorbei. Wir sind auf die A9 des Khumbu eingebogen. Nun werden wir rasch an Höhe gewinnen und müssen dementsprechend das Tempo drosseln. Und schon in vier Tagen steht mit dem Renjo-Pass unsere die erste echte Nagelprobe auf dem Plan.

Wunderschönes Morgenlicht auf dem Weg von Paiya nach Phagding. Im Hintergrund ist in der Ferne Lukla (Mitte, oben) zu sehen, wo an diesem schönen Morgen pausenlos die Flieger zu Gange waren.

Allerdings bin ich so gar nicht sicher, ob wir den Pass überhaupt überqueren können, denn es liegt in der Höhe nach wie vor eine Menge Schnee. Das wissen wir vom Lamjura Pass. Und der Renjo ist nicht weniger als 2000 Meter höher!

Bei uns bleibt es also spannend. Wir brauchen Mut, ein bisschen Glück und viele gedrückte Daumen.

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4 Antworten

  1. Ute sagt:

    Lieber Olaf, ich habe noch so viele gute Erinnerungen an Chauti – wie schön dass Du ihm deinen Text widmest-
    Sag ihm ganz liebe Grüße (auch wenn er sich wahrscheinlich nicht mehr an uns erinnern kann…. ist ja schon eine Weile her). Aber er hat echt Spuren hinterlassen! Alles Gute für euch als Gruppe und Danke für deine Berichte!
    Ich reise in Gedanken ein wenig mit!

  2. Sandra Möller sagt:

    Meine Daumen sind gedrückt ????
    Ach und zu Chauthi: Ein toller Mensch!!! Ich bin froh, dass auch ich ihn kennenlernen durfte ?
    Ich wünschte es gäbe um mich herum nur lauter Chauthies. Dann wäre der Alltag leichter, herzlicher, erfrischender und so viel weniger materiell und anspruchsvoll!!!
    Ein sehr schöner und wahrer Bericht lieber Olaf.
    Liebe Grüße aus der Heimat und weiterhin einen guten Marsch.
    Sandra

  3. Imke sagt:

    Das hast Du schön geschrieben, lieber Olaf, ich denke auch noch oft zurück an unsere Tour und an Chauthi, wie wir zusammen in der Lodge um den Ofen saßen mit ihm und auf eure Rückkehr vom Nirekha Basecamp gewartet haben. Er ist wirklich eine Frohnatur und wir erinnern uns sehr gerne an ihn! Herzliche Grüße also auch von Markus und mir an Chauthi, sowie auch an Dich, Janina und Kumar
    Weiterhin alles Gute für eure Tour, LG, Imke

  4. Frank sagt:

    Lieber Olaf,
    als ich den Titel gelesen habe, wusste ich sofort wen du meinst. Wer Chauthi kennenlernen durfte, wird ihn wohl nie vergessen. Immer Hilfsbereit und Fröhlich, genau wie du es beschrieben hast. Ich habe kein Bild gefunden, auf dem er nicht lacht, und ich habe wirklich viele Bilder gemacht. Wenn ich diese anschaue kann ich dem Alltagsstress für kurze Zeit entfliehen. Aber „der Sack Reis auf meinem Rücken“ ist schon wieder ganz schön schwer. Ich wünsche Euch weiterhin spannende Abenteuer mit vielen tollen Bergblicken und weiteren interessanten Begegnung. Ich bin schon sehr gespannt.
    Viele Grüße, auch an Chauthi,
    Frank.

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