Haben oder Sein

Es gibt nur wenige Orte, an denen ich mich derart heimisch fühle wie im Oberreintal. Es ist nicht nur ein wildromantischer Flecken Erde, eingefasst von steilen Wänden, hochaufragenden Türmen und kühnen Graten. Dieses Klettergebiet hat sich bis heute einen guten Teil seiner Originalität bewahrt. Manchmal scheint es mir sogar, als sei hier oben die Zeit stehengeblieben.

Die Nordwand des Unteren Schüsselkarturms im letzten Abendlicht. Rechts davon die Scharnitzspitze und links die Schüsselkarspitze.

Im Oberreintal kommt selbst der abenteuerlustige Kletterer noch voll auf seine Kosten, denn es gibt etliche Routen ganz ohne Bohrhaken, in denen er sich seinen Weg selbst suchen und absichern muss.

Ungekrönter König im Oberreintal ist der Dom, hier mit seiner Nordwand, durch welche sich gleich mehrere phantastische Pfeiler ziehen.

Doch auch nahezu südfranzösische Bedingungen sind in manchen Wegen zu finden, in denen selbst der verwöhnteste Sportkletterer ganz ungeniert seiner Leidenschaft frönen kann. Hier kann also jeder Kletterer nach seiner Fasson glücklich werden.

Ich finde diese Verhältnisse geradezu paradiesisch. Dennoch hat es das Oberreintal bis heute nicht geschafft, zu einem Modeklettergebiet zu werden. Ganz nebenbei gesagt ist das auch sehr gut so!

Die Gründe für diese, fast könnte man Entrücktheit sagen, liegen auf der Hand. Da ist zum einen der weite Weg, den der ambitionierte Kletterer zurücklegen muss, wenn er aus dem Tal kommt. Der jugendliche Kletterer ist zunehmend lauffaul. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass man da oben nicht wirklich weiter kommt. Man geht denselben Weg wieder runter.

Doch der Hauptgrund ist die jetzt schon bald einhundertjährige Hütte. Sie ist für mich der Inbegriff der oberreintaler Ursprünglichkeit.

Hier wird noch das einfache Leben zelebriert und hier gibt es Regeln, die man zu beachten hat. Man stelle sich das mal vor!! Macht man das nicht, bekommt man es mit dem Wirt zu tun. Denn den gibt es hier oben auch. Aber was für einen! Und auch das ist gut so. Trotzdem muss man seine gesamte Verpflegung auf die Hütte schleppen. Denn außer Getränken, die aber reichlich, gibt es auf der Oberreintalhütte nichts.

Diese Hütte ist einer der gemütlichsten Orte, die ich kenne, denn sie ist im Originalzustand erhalten. Hier wird sogar noch auf einem uralten eisernen Herd mit Holz gekocht.

Mario und ich hatten für sechs Tage volle Verpflegung für drei Mahlzeiten am Tag dabei. Und dazu kommt ja hier oben nicht nur das normale Kletterzeug einschließlich zweier Halbseile und der vielleicht zehn Expressschlingen sondern eben auch das gesamte Sortiment mobiler Sicherungsmittel. Unsere Rucksäcke waren wirklich bleischwer. So etwas tun sich heutzutage immer weniger an.

Eine kleine Besonderheit auf dem Weg hinauf zur Oberreintalhütte ist dieses unscheinbare Schild an einem Stapel riesiger und in der Regel klatschnasser Holzscheite. Und die Hütte ist bestimmt noch eine knappe halbe Stunde Aufstieg entfernt. Nichts für Weicheier. Doch leider zählen wir nun auch dazu, denn wir mussten noch einmal absteigen, um so ein Holzstückchen zur Hütte zu tragen. Dafür gab es es dann auch einen Schnaps gratis vom Wirt.

Wir waren hier, weil Mario den Wunsch hatte, alpin zu klettern. Und zwar richtig. Es sollte ein Personalalpinklettercoaching sein. Na und dafür ist das Oberreintal geradezu prädestiniert. Und die drei großartigen Routen, die wir beide dann auch geklettert sind, waren ein echtes Abenteuer für Mario. Soviel jedenfalls steht fest.

Eine Route, die ich schon immer einmal gerne klettern wollte, haben wir allerdings ausgelassen. Die „Haben oder Sein“ am Westwandsockel des Oberreintalturmes. Mario brauchte eine kleine Pause.

Abgesehen von den gebohrten Ständen stecken genau vier Haken in den fünf Seillängen dieser Route. Erstbegangen wurde dieser Weg mit lediglich drei Normalhaken und einer Sanduhrschlinge. Und dass die anspruchsvolle psychische Komponente für die Wiederholer in diesem Weg bis heute erhalten wurde, spricht für die Sensibilität und den Respekt gegenüber den Erstbegehern. Solche Wege gibt es Gott sei Dank noch sehr viele im Oberreintal.

Mich fasziniert an dieser Route vor allem ihr Name. Die beiden Erstbegeher haben sich 1982 offensichtlich ganz ähnliche Fragen gestellt, wie ich das tue, wenn ich mal wieder am Zweifeln bin. Wie zum Beispiel öfter auf Besuch bei alten Freunden oder Kommilitonen in ihren großen Häusern mit ihren wundervollen Familien darin. Oder wenn mich das Finanzamt mal wieder peinlich befragt, wovon ich überhaupt lebe? Oder wenn mal wieder eine Renteninformation der Rentenversicherung im Briefkasten liegt.

Mario in der „Direkten Westwand“ am Oberreintalturm. Mit immerhin 6+ die anspruchsvollste Route in unserer Zeit im Oberreintal.

Daran musste ich denken, als ich gerade vor wenigen Tagen unter dieser Route stand. Und mir viel auf, dass ich dies in der letzten Zeit bei ganz verschiedenen Gelegenheiten öfter mal tue. Woran mag das nur liegen?

Die gemeinsame Zeit mit Mario im Oberreintal war auf alle Fälle ganz viel „Sein“. Es hat großen Spaß gemacht, ihm ebenfalls viel davon zu verschaffen. Er wird diese wundervollen Tage dort ganz sicher nie vergessen. Und vor allem das macht mir ein besonders gutes Gefühl. Und wer auch mal Lust auf eine solche Zeit mit ganz viel „Sein“ im Gepäck hat, der schaue sich mal mein neues Angebot unter meiner Rubrik „Kletterkurse“ an. Zugeschnitten auf die Wünsche der Kletterfreunde, die zwar schon reichlich geklettert sind aber eben noch keine Erfahrung außerhalb der Kletterhallen und -gärten gemacht haben, dass jetzt aber gern ändern möchten.

Marion nach getaner Arbeit. Im Hintergrund der Oberreintalturm mit seiner 250 m hohen Westwand.

Zum Schluss noch ein kleiner Tipp. Die Masse der Klettergebiete und -routen in den Alpen ist ja buchstäblich unüberschaubar. Da macht es nach meiner Ansicht Sinn, Auswahlführer anzuschauen, die besondere Gebiete und dort nur ausgewählte Wege behandeln. Für einen solchen Führer habe ich letztens ein paar Bilder beigesteuert und ihn dann auch zugeschickt bekommen.

 

Und wo ich ihn so gerade in den Händen halte, finde ich ihn gleich in mehrerlei Hinsicht gelungen. Sowohl in der Routenauswahl, als auch in der Wahl der Klettergebiete, als auch in der Machart. Es gibt Fotos von jeder Route, in der sie eingezeichnet ist, es gibt ein Foto in der Route und es gibt zu jeder einzelnen Route Topos, bei denen man merkt, dass der Autor nicht nur Bergführer sondern auch Grafiker ist. Und gleich drei meiner bevorzugten Gebiete sind in diesem Führer zu finden. Allerdings wird das Oberreintal auf ewig in diesem Führer fehlen, denn dort ist garantiert kein Weg in maximal 30 Minuten erreicht.

Und auch das ist sehr gut so 🙂

 

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2 Antworten

  1. Alex sagt:

    Weiße Flecken auf der Landkarte gibt es bekanntlich schon lange nicht mehr. Aber über solche nicht so bekannte Orte der Flucht aus dem Alltag und Rückzug in die Natur kann man dankbar sein. Am besten erzählt man lieber keinem davon. 🙂

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