Trekkinghauptstadt
Heute sind wir in Namche Basar eingetroffen. Die Tage der langen Etappen, an denen wir von früh bis zum Abend auf den Beinen waren, sind nun vorbei. Von heute an bewegen wir uns deutlich gemächlicher vorwärts. Denn nun geht es in die Höhe.
300 Höhenmeter pro Tag sollte man seine Schlafhöhe steigern, nicht mehr. Und da werden wir in den kommenden Tagen eben oft schon Mittags am Ziel sein oder, wie morgen zum Beispiel, erst nach dem Lunch überhaupt loslaufen.
Allerdings gibt es drei Ausnahmen und die heißen Renjo, Cho La und Kongma La. Das sind unsere drei großen Herausforderungen auf dem zweiten Teil unserer Reise, welcher morgen beginnt.
Denn morgen gehen wir nach Thame. Auf halber Strecke werden wir meine tibetischen Nonnen in ihrem Kloster besuchen und mit ihnen gemeinsam eine Puja abhalten. Diese Zeremonie hat bei meinen Touren eine sehr lange Tradition. Auf jeder Gästetour und natürlich auch vor jeder Expedition waren wir bei ihnen, um die Berggötter zu besänftigen und den religiösen Gefühlen unserer einheimischen Begleiter Respekt zu erweisen.
Übermorgen steigen wir dann nach Lungden an den Fuß des Renjo auf und legen dort vor unserem ersten großen Pass einen wohlverdienten Ruhetag ein. Am Dienstag kommender Woche geht es dann am Renjo das erste Mal deutlich über die 5000-Meter-Marke.
Doch heute genießen wir erst einmal die Annehmlichkeiten Namches, welches sich immer mehr zu einer der weltweit bedeutendsten Trekkingmetropolen mausert. Und die Geschwindigkeit, mit der Namche sich entwickelt, ist wirklich atemberaubend. Erst 1951 kamen zum ersten Mal überhaupt Ausländer ins Khumbu, 1964 wurden die ersten Trekkinggäste empfangen und die erste Lodge entstand in Namche 1973. (Quelle: Mündliche Mitteilungen meiner „alten“ Sherpafreunde und H.W. Tilmann, Nepal Himalaya)
Namche liegt zwischen 3400 und 3500 m Höhe oberhalb der Stelle, an der sich die beiden Flüsse Bhote Kosi und Imja Drangka vereinigen. Letzterer kommt direkt von Everest und Lhotse und entwässert das gesamte östliche Khumbugebiet.
Dass Namche werden konnte, was es heute ist, wurde ihm keineswegs in die Wiege gelegt. Es war ein kleiner, unbedeutender und ziemlich armer Ort. Das lag daran, dass die landwirtschaftlich nutzbare Fläche in dem amphitheaterartigen Einschnitt des Hanges, an welchem Namche angelegt wurde, begrenzt ist. Es gab hier über Jahrhunderte nur ein paar wenige armselige Steinhütten.
Namche liegt am Schnittpunkt dreier bedeutender Wege: Da ist einmal der alte Handelsweg über den Pass Nangpa nach Tibet. Zweitens der Weg hinauf zum Fuss des Everest, der aber erst seit höchstens 60 Jahren eine Bedeutung bekommen hat. Der dritte sehr wichtige Weg ist natürlich der hinunter ins Tal in Richtung Salerie und Jiri.
Diese exponierte Lage ist der Grund, warum Namche zu einem Marktflecken wurde, an dem bis heute an jedem Freitag und Sonnabend ein Basar abgehalten wird. Doch Khumjung und Khunde, die höher gelegenen Nachbarorte Namches, befinden sich ebenfalls an dieser Wegkreuzung, waren jedoch viel größer und auf Grund einer um ein vielfaches umfangreicheren landwirtschaftlich nutzbaren Fläche schon immer wohlhabender.
Trotzdem ist Namche die unangefochtene Metropole der Everest-Region geworden. Und das liegt einzig und allein an der Tatsache, dass Namche nach einem 600-Meter-Aufstieg aus dem Tal der erste Ort ist. Man konnte einfach nicht weitere 400 m bis Khumjung oder Khunde aufsteigen, weil dann alle Touristen höhenkrank geworden wären. Wenn es Namche an dieser Stelle nicht gäbe, an der es nun mal ist, hätte es vermutlich angelegt werden müssen. Selbst die Höhendifferenz zwischen den letzten Dörfern im Tal (Phakding, Benkar, Monjo, Jorsale) und Namche ist schon groß genug und liegt zwischen 600 und 800 Metern. Dazwischen gibt es aber nichts.
Das also ist der entscheidende Faktor für die Bedeutung und den gegenwärtigen großen Reichtum Namches. Namche ist auf Grund dieses Höhenunterschiedes kein Durchgangsort, wie buchstäblich alle anderen Siedlungen im Khumbu. Die Höhendifferenzen können überall so gewählt werden, dass nicht mehr als 300 bis 400 Meter pro Tag aufgestiegen werden müssen. Möchte man nach Namche, sind es wenigstens 600. Und dann kann man eben nicht einfach am nächsten Tag weitergehen, sondern muss sich hier ein oder zwei Tage an die Höhe gewöhnen. Die Touristen bleiben also länger und das hat diesen Ort so wohlhabend gemacht.
Als ich vor nun mehr 24 Jahren das erste Mal hier her kam, gab es kaum etwas von dem, was den Ort heute ausmacht, ausser ein paar einfachen Herbergen. Es gab keine Bäckereien, keine Internetcafés, kein Billardbars, keine Bergsportläden, kein WiFi, kein Handyempfang, keine Zimmer mit Dusche, keine Spülklosetts, kein Luxushotel und schon gar keine Sherpamillionäre.
Dass es das alles heute gibt, finde ich nicht etwa schlecht, im Gegenteil! Ich genieße diesen Komfort in vollen Zügen, wenn ich nach Wochen oder Monaten aus den Bergen komme. Aber ein wenig befremdlich ist es schon, wenn die Gäste in den Lodges in ihre Smartphones starren, anstatt sich wenigstens aus dem Fenster die Berge im Abendlicht anzuschauen. Oder wenn ich mitbekomme, wie die allermeisten der jungen, wohlhabenden Sherpas schon jetzt nur eins will, nämlich nach Amerika auswandern.
Wer wird dann die Traditionen pflegen, die Klöster erhalten und die uralten Rituale weitergeben, welche die Sherpakultur ausmachen und die zu den Bergen hier gehört wie der Schnee? Der Wandel ist so grundlegend und so ungeheuer rasant. Vom Mittelalter in die Moderne in fünfzehn, zwanzig Jahren.
Die Elterngeneration der jungen, gut ausgebildeten Sherpas, die derzeit noch das Sagen haben, weiss um die Bedeutung ihrer Kultur für den Tourismus. Obwohl es ihnen genau genommen nur noch ums Geldverdienen geht. Doch die Pembas, Lakpas, Pasangs und Purbas, die jetzt hier aufwachsen, werden, wie gesagt, nicht einmal gewillt sein, hier überhaupt zu leben, geschweige denn Religion und Tradition zu bewahren.
Nun, es ist eben so. Und das ist auch kein Grund zur Traurigkeit, höchstens zur Eile. Warum sollte es nun gerade hier anders sein, als im Rest der Welt? Etwa weil ich mich ausgerechnet bei den Sherpas so wohl fühle? Die gute Nachricht ist, dass das Khumbu von den wirklich tiefgreifenden Veränderungen, wie es scheint, auch in Zukunft verschont wird. Sämtliche Projekte, wie eine Straße ins Khumbu, die tausende von Trägern arbeitslos machen würde oder eine Seilbahn hinauf zum Hotel „Yeti-Home“ am Kongde werden wohl nicht so schnell realisiert, obwohl die Pläne dazu in der Schublade liegen.
Man kann hier noch immer die ganz großen Erlebnisse haben, wie meine Gäste und auch ich gerade wieder erfahren dürfen. Und genau besehen, ist es immer noch einfach, im Khumbu den ultimativen Bergurlaub zu verleben. Man muss aber selbst aktiv werden. Braucht man hier tatsächlich sein Smartphone oder seinen Laptop? Muss man hier wirklich jeden Tag mit der Firma telefonieren, seine Mails checken oder seine Erlebnisse auf Facebook posten so wie ich 🙂 Muss man nicht, wie meine Gäste gerade dankenswerter Weise demonstrieren. Und man muss auch nicht in der Saison herkommen, wenn die vielen tausend anderen Bergfreunde ebenfalls gerade hier sind. Und ganz einfach ist es, ein paar andere Wege zu gehen, als jene, die alle hier laufen.
Ich möchte natürlich am liebsten, dass alles so bleibt wie es ist (war). In Deutschland leben und immer mal herkommen und mir die uralte tibetische Lebensweise reinziehen. Sehr egoistisch. Aber so läuft das eben nicht, und das ist auch gut so. Doch die Hauptsache, nämlich die einzigartigen Berge rund um Namche Basar, werden sogar auch dann noch da sein, wenn die klugen Tiere, die das Erkennen erfanden, wie Nietzsche schreibt, nach wenigen Atemzügen der Natur wieder sterben mussten.
Wunderbarer Bericht und Bilder. Dieser Teil der Erde läßt einen nie wieder los
Mein Kommentar scheint nicht abgegangen zu sein. Deshalb nochmal in Kurzform:
Im Anblick dieser măchtigen Natur mit ihren autentischen Menschen, den Farben ùnd der förmlich spürbar vibrierenden Atmosphäre lassen einen daran zweifeln, ob man’s im Leben richtig gemacht hat….
Wenn man diese Wunderwerke der Natur mit den aufschlußreichen begleitenden Worten von Doktor Rieck erblickt, könnte man wahrlich daran zweifeln, ob man dem Großstadtleben nicht öfters den RūcKen hatte kehren sollen….
Hallo Bine! Mutti und ich haben uns gerade den ganzen Blog von vorne bis hinten durchgelesen. Wirklich toll!
Wir freuen uns, dass du deinen großen Traum mit so vielen tollen Eindrücken und Bildern erleben kannst. Bleibt alle schön gesund!!!