Stetind
Morgen geht es los. Die Ausrüstungsliste liegt neben mir. Immerhin! Irgendwann wird das alles schon noch eingepackt. Anderthalb Tage habe ich immerhin noch. Mit Uwe gab es inzwischen auch ein Ausrüstungstreffen in seiner gemütlichen Laube oberhalb des Bielatals in der Sächsischen Schweiz. Allerdings verbrachten wir 95 Prozent der Zeit mit Klettern und nur 5 mit unserer Ausrüstung für den Stetind. Das Wetter war zu gut, die Türme im Bielatal in Sichtweite. Wie soll man sich da konzentrieren können? Wir nehmen einfach alles an mobilen Sicherungsmitteln mit, was wir haben. Wenn wir unser Zeug zusammenschmeißen, wird es schon reichen.
Denn im Norden Norwegens darf grundsätzlich nur mit mobilen Sicherungsmitteln geklettert werden. Bohrhaken gibt es am Stetind nicht. Für uns Sachsen sicher nicht besonders erschreckend. Schließlich darf unsere mobile Sicherungsausrüstung anders als im Elbsandstein am Stetind sogar aus Metall sein.
Die Anreise ist organisiert, die Besorgung der Verpflegung aufgeteilt. Es ist also alles soweit auf einem guten Weg. Wir wollen klettern gehen, nicht mehr und nicht weniger und damit kennen wir uns aus. Ich freue mich sehr auf diese kleine Reise gemeinsam mit Uwe.
Und ich freue mich auf den Anblick des Stetind. Schöne Berggestalten haben es mir einfach angetan. Er ist einer von den Gipfeln, die sich nicht nur bei Alpinisten sehr gründlich und für immer ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben. Doch was macht sie eigentlich zu etwas Besonderem? Woraus resultiert ihre manchmal gewaltige Anziehungskraft auf uns Bergsteiger, dass wir an ihnen oft genug sehenden Auges unser Leben riskieren?
Ich werde oft gefragt, was einen Berg außergewöhnlich machen würde.
Ist es seine extreme Höhe, seine Steilheit, die Schwierigkeiten bei der Besteigung oder seine Gefährlichkeit? Ein Berg, der mühelos die vier eben aufgezählten Eigenschaften in sich vereint, ist der über 8000 m hohe Nanga Parbat in Pakistan. Doch er wird nie genannt, wenn es um Schönheit geht. Er ist lediglich ein riesiger Klotz, von dem die Lawinen im Minutentakt herunterrauschen und an dem vor allem deutsche Bergsteiger wie die Fliegen gestorben sind.
Es muss also zu diesen Eigenschaften noch etwas hinzukommen. Und hier sind es vor allem anderen drei Dinge die einen Berg einzigartig machen: Seine Form, seine spektakulären Grate und ganz besonders der Höhenunterschied zu seinen Nachbarn. Je freier ein Berg steht, desto eher wird er als außergewöhnlich attraktiv angesehen werden. Der Shivling im indischen Garhwal-Himalaya vereint genau diese drei Dinge und gehört deshalb auch zu den Berggestalten, bei welchen es bezüglich unserer Bewunderung kaum Meinungsverschiedenheiten gibt.
Dasselbe gilt für ihn hier, den Alpamayo in Peru. Er darf sich sogar ganz offiziell als schönster Berg der Erde bezeichnen, weil er tatsächlich einmal von Journalisten und Künstlern als solcher gewählt wurde.
Und ohne Zweifel zählt auch dieser Gipfel zu den top ten der weltweiten Bergschönheiten obwohl seinen Namen kaum ein Mensch je gehört hat. Trotzdem hat es der Artesonraju durch seine makellose Schönheit geschafft, die wahrscheinlich bekannteste Berggestalt überhaupt zu werden. Denn sie ziert seit vielen Jahrzehnten das Logo des Hollywood-Filmgiganten Paramount.
Dummerweise sind die freistehenden Berge mit atemberaubender Gestalt und tollen Graten in der Regel dann zusätzlich auch noch steil, hoch, darum natürlich objektiv gefährlich und deshalb schwer zu bezwingen. Alpamayo und Artensoraju standen lange auf meiner persönlichen Wunschliste, bis ich sie endlich 2014 besteigen konnte. Zwei andere Bergschönheiten nämlich der Fitz Roy in Patagonien und der Monte Sarmiento auf Feuerland stehen leider nach wie vor immer noch dort drauf.
Während ich hier so vor meinem Monitor sitze und mir die Bilder dieser Traumberge anschaue, an denen ich schon unterwegs sein durfte, wird mir jedesmal aufs Neue bewusst, wie dankbar ich bin, solche großartigen Momente erleben zu dürfen.
Und dieses tiefe Gefühl der Dankbarkeit ist auch der Grund dafür, dass ich mich nicht ständig fragen muss, weshalb ich das eigentlich alles mache. Die Kälte, die Strapazen, die Gefahren, das viele Geld, dass ich nun vielleicht doch langsam in meine Altersvorsorge stecken sollte. All das hat keine Bedeutung in diesen Momenten, wenn ich den Schlüssel für meine Leidenschaft wieder einmal in meinen Händen halte. Und diese Augenblicke weigern sich in meiner Erinnerung unglaublich beharrlich, auch nur zu verblassen geschweige denn in Vergessenheit zu geraten.
Selbst nach Jahrzehnten erinnere ich mich an solche großartigen Orte, Erlebnisse, Eindrücke, als wären sie mir erst gestern geschehen. Für mich ist dies das Wertvollste, das Beste, was einem Menschen überhaupt passieren kann: Nämlich dass das Gefäß seines Lebens angefüllt ist, mit derartig wichtigen und wertvollen Dingen.
Aber ich lege wert auf die Feststellung, dass es selbstverständlich nicht nötig ist, dafür unbedingt aufwendige Reisen in die entlegensten Ecken der Welt machen zu müssen, schwierige Berge zu erklimmen oder Eiswüsten zu durchqueren. Obwohl ich persönlich natürlich davon überzeugt bin, dass grandiose Naturräume die beste Kulisse für besondere Erlebnisse sein können.
Wir Menschen werden durch solche einzigartigen Erfahrungen zunehmend unangreifbar, wie ich finde, weil wir nun etwas besitzen, was uns keine Macht der Welt wieder nehmen kann. Nicht einmal der Tod selbst.
Mir dessen bewusst zu sein, ist für mich ein sehr beruhigendes und tröstliches Gefühl in unserer chaotischen Welt.
Viel Erfolg am Stetind! Der Berg schaut beeindruckend aus!