Die Magie der Berge
Text und Bilder Detlef Weyrauch
Eigentlich hätte ich diesen Beitrag gar nicht schreiben können. Ich hatte die Chance gebucht, auf den Nirekha Peak steigen zu können. Mittlerweile sagen mir sowohl mein Gefühl als auch mein Verstand, dass ich von diesem ambitionierten Vorhaben die Finger lassen sollte. In Abstimmung mit Olaf schließe ich mich der Trekkinggruppe an, die vom sympatischen und erfahrenen Kumar geführt wird. In Dragnag trennen sich für neun Tage unsere Wege. Mit den besten Wünschen verabschieden wir sechs uns von den Bergaspiranten. Ein eisiger Wind weht den frischen Schnee über unseren Pfad, während uns die Yaks mit dem Camp- und Bergequipment für unsere Mitstereiter begegnen.
Es ist ein langer Weg am Steilhang durch eine weiß verzuckerte Berglandschaft. Tief im Tal rauscht der Dudh Khosi, der Milchfluss. Am Nachmittag erreichen wir das auf einer Sonnenterrasse mit fruchtbarem Boden liegende Dorf Phortse auf 3.840 m Höhe. Der Chef unserer Lodge Karma Rita Sherpa hat an 16 Everest-Expeditionen teilgenommen und stand neun mal auf dem Gipfel – was für eine Leistung.
Der nächste Tag beschert uns viel Sonne und eine landschaftlich wunderschöne Etappe. Nach kurzem Aufstieg begleitet uns die Ama Dablam, eine außergewöhnlich eindrucksvolle Berggestalt. In Pangboche machen wir Mittag mit der obligatorischen Rara-Nudelsuppe.
Hoch über uns leuchten die schneebedeckten Thamserku und Kang Tenga, eine märchenhafte Kulisse. Nach 7:45 Stunden ist das Tagesziel Dingboche auf 4.410 m Höhe erreicht. Beim Blick auf den Island Peak kommen viele Erinnerungen an meine erste Khumbu-Tour mit Olaf aus dem Jahr 2002 wieder hoch.
Wir biegen auf die Hauptroute zum Everest ein. Hier herrscht Hochbetrieb in beiden Richtungen in Form von Trekkern, Trägern und Yak-Karawanen. Ich muss unweigerlich an das Lied von AC-DC „Highway To Hell“ denken. Manchen Bergsteiger und Helfer dürfte später noch die Hölle erwarten.
Die Mittagslodge in Dughla erinnert mich mit ihrer Musikbeschallung an eine Skihütte in den Alpen. In starkem Kontrast dazu steht ein bedrückender Platz, an dem viele Gedenksteine für am Everest verunglückte Bergsteiger stehen. In Lobuche, das vom gewaltigen 7.000er Nuptse überragt wird, erreichen wir unsere bisher größte Schlafhöhe mit 4.930 m.
Noch höher hinauf geht es zum höchst gelegenen Ort Nepals nach Gorak Shep auf 5.180 m. Am Nachmittag, nachdem sich wie meistens die Sonne verzogen hat, steigen wir bei kaltem Wind auf den Kala Patar (5.550 m). Wir haben Glück. Ab und zu setzt sich die Abendsonne durch und gibt den Blick frei auf den höchsten Berg der Erde sowie weitere Giganten – ein magisches Schauspiel.
Am nächsten Morgen machen wir uns neben vielen Trägern und Yaks auf zum Everest Basecamp. Derzeit wird es für den jährlichen großen Ansturm der Bergsteiger eingerichtet. Neben den Zelten türmen sich gewaltige Eispyramiden des Khumbu-Gletschers auf, die in der Sonne glitzern. Etwas entfernt beginnt der berüchtigte Eisbruch, durch den die Everest-Aspiranten hindurch müssen.
Überall wird gewerkelt und gewuselt. Allein das Einrichten dieses Basislagers ist eine logistische Meisterleistung der vielen einheimischen Helfer. Ich könnte Stunden hier verbringen, um das Flair aufzusaugen. Wir aber müssen heute noch zurück nach Lobuche.
Die Morgensonne scheint wie so oft auf dicke Eisblumen an der Fensterscheibe. Wir haben eine relativ kurze Etappe nach Dingboche zu absolvieren. Am Nachmittag breche ich alleine auf, um den 5.083 m hohen Hausberg Nangkartshang zu besteigen. Ein heftiger Schneesturm lässt mich ca. 80 m unterhalb des Gipfels umkehren. Ich muss an unsere Gruppe am Nirekha denken und hoffe, dass heute nicht deren Gipfeltag ist. Später erfahre ich, dass es doch der entscheidende Tag war. Zurück im Dorf, bezeichnen mich zwei junge Nepali lachend als Snowman.
Am nächsten Tag geht es hinauf nach Chukhung, dem letzten auf 4.730 m Höhe gelegenen Ort im Imja-Tal. Vor 17 Jahren haben wir in einer kleinen, primitiven Hütte übernachtet. Jetzt steht hier eine neue, große Lodge mit vielen komfortablen Zimmern, sauberen Toiletten und riesigem, stilvoll eingerichtetem Aufenthaltsraum, desssen Ofen aber nicht in der Lage ist, ihn warm zu bekommen. Vom Fenster blicken wir direkt auf die verreiste Nordseite der Ama Dablam, die uns um ca. 2.100 m überragt.
Mein Handywecker treibt mich 05:30 Uhr aus dem warmen Schlafsack. Es ist verdammt kalt. Heutiges Ziel ist der 5.546 m hohe Chukhung Ri. Weil ich bei langsamem Gehen schwer auf Betriebstemperatur komme und meine Finger nicht warm werden, laufe ich vornweg.
Am Beginn der Felsen pfeift der Wind in kalten Böen. Anstatt auf die anderen zu warten, beginne ich allein mit der leichten Kletterei. Olaf würde sagen, man muss hier die Hände aus den Taschen nehmen. Ich verpasse dabei den richtigen Aufstiegsweg. Der Fels ist sehr brüchig mit vielen losen Platten. Ich bekomme Angst und steige auf einem steilen Geröllfeld ein Stück ab, um über ein Felsband schließlich den Normalaufstieg zu erreichen.
Oben sehe ich Kumar. Er macht mir berechtigterweise große Vorwürfe. Ich bitte um Entschuldigung, und wir steigen gemeinsam das letzte Stück zum Gipfel auf, wo Andrea und zwei Bernds auf den ziemlich geschafften Detlef warten. Die Aussicht auf die gewaltige Lhotse-Südwand, Nuptse, Makalu, die Spitze des Mount Everest sowie viele weitere Berggiganten ist unbeschreiblich.
Es geht abwärts in tiefere Gefilde. In Dingboche genießen wir im „Cafe 4410“ einen Hauch von Luxus in der rauhen Bergwelt. Der weitere Weg beschert uns viele Staus durch Yaks, Träger und Trekker, fast wie auf deutschen Autobahnen.
Die Sonne verzieht sich und macht Wolken mit späterem Nebel Platz. Nach der Talquerung auf einer Hängebrücke schnaufen wir bergan durch Rhododendronwald nach Tengboche auf 3.870 m. Wir kommen in der Trekkers Lodge mit winzigen Zimmern, aber warmem Ofen unter.
Im bekanntesten buddhistischen Kloster des Khumbu nehmen wir neben vielen anderen Zuschauern am Nachmittagsgebet teil, das von nur drei Mönchen zelebriert wird. Auch hier scheint der Arbeitskräftemangel Einzug gehalten zu haben. Kumar bestätigt mir, dass das Interresse am Klosterleben stark nachgelassen hat. Nach dem Abendessen spielen wir wie immer eine Runde Uno.
Es geht zurück nach Namche Basar. Über Rhododendron- und Nadelwäder grüßen die schneebedeckten Berggestalten. Fast zeitgleich treffen wir mit der anderen Gruppe ein. Alle haben in einer dramatischen Aktion den Gipfel des Nirekha Peaks erreicht und sind gesund sowie durch die Strapazen gekennzeichnet. Ich bereue meine Entscheiung nicht.
Vor zehn Jahren habe ich ein Gedicht geschrieben, dessen Anfangsverse sehr gut auf meine Himalaya-Erlebnisse passen.
Ich steh‘ im Tal und schau hinauf.
Mir gehen Herz und Auge auf.
Gigantisch, majestetisch, schön
seh‘ ich ihn leuchtend vor mir steh’n.
Die Sonne schickt ihr erstes Licht
durch Morgennebel, der noch dicht,
hinauf auf hohe Bergesspitzen,
die leuchtend in der Sonne blitzen.
Eine unsichtbare Hand
greift nach mir, zerrt am Gewand.
Magisch zieht sie mich hinauf
auf des Berges Gipfel rauf.
Die unsichtbare Hand sowie die Hilfe insbesondere unserer Träger und unseres tollen Guides Kumar hat mich immerhin auf drei 5.000er Gipfel geführt. Ich bin sehr dankbar, dass ich auf meine alten Tage das alles nochmals gemeinsam mit Gleichgesinnten erleben darf.
Danke für diesen tollen Bericht, Detlef!
Ganz toller Bericht, ich schließe mich dankbar Veronicas Kommentar an! Das lässt Euer Trekkingleben auch uns Daheimgebliebenen lebendig werden 🙂
Eine weiterhin schöne Reise und gutes Durchkommen, Heike
Ein toller Bericht!!! Und diese tollen Erlebnisse, haben den verpassten Gipfelaufstieg sicher wett gemacht. Zumindest hört es sich so an. Das machte Lust auf eigene Reise ins tolle wunderschöne Nepal!
Wir grüßen ganz lieb aus Halle!
Ich schließe mich den Vorschreibern ebenfalls an und bedanke mich für Deinen Blogbeitrag, der die Erlebnisse der zweiten Gruppenhälfte beschreibt, die ja nun noch deutlich mehr von der Khumburegion am Fuße des Mount Everest gesehen und in ihr erlebt hat als wir Nirekha Aspiranten…
Vielen Dank für die positiven Kommentare. In meinem Beitrag hatte ich einen wichtigen Fakt noch vergessen, den ich hiermit nachholen möchte. In Olafs Beiträgen „Mehr Luft“ wird das Thema Akklimatisation ausführlich beschrieben. Die uns verordnete Akklimatisationsstrategie war hervorragend. Wir waren relativ lange Zeit in großen Höhen unterwegs. Die größte Schlafhöhe hatten wir mit 5.180 m in Gorak Shep. Ich hatte zu keiner Zeit Kopfschmerzen oder sonstige höhenbedingte Probleme. Dieser positive Umstand ist mir bei derartigen Reisen das erste mal passiert, was auf eine perfekte Höhenanpassung schließen lässt.