Aufgeschmissen

Neulich stand ich wie schon hunderte Male mit einem Kletterführer in der Hand vor einem Felsen. 60 m hoch das Teil. Ich war da noch nie. Ohne Kletterführer einzusteigen, wäre ein echtes Abenteuer geworden, zumal die übergroße Mehrzahl der Aufstiege selbst abzusichern war. Also wo verlaufen hier die Routen? Welche Schwierigkeiten sind in welcher Route zu erwarten? Wie gut sind die Wege hier an dieser Wand mit mobilen Sicherungsmitteln absicherbar? Welche Route ist überhaupt lohnend, und wie komme ich von diesem Felsen wieder runter?

Kletterführer lesen ist eine der grundlegenden Kompetenzen eines Kletterers. Sonst ist man aufgeschmissen. Besonders übrigens bei uns im Elbsandstein. Ich stehe hier gerade vor dem Höllenhund in Rathen und überlege, ob ich in den berühmten „Talweg“ von Dietrich Hasse einsteige oder besser doch nicht.

All das schien mir der Kletterführer tatsächlich verraten zu wollen. Teilweise über versteckte Hinweise. Zum Beispiel über die Anzahl von Sternchen, welche die Wege vom Autor des Kletterführes verliehen bekommen hatten. Doch stimmte das alles auch? Oder lauern vielleicht irgendwo böse Überraschungen?

Es ist ja so: Falls der Buchautor von der Natur mit ungerecht großen Talenten hinsichtlich seiner Fähigkeiten in der Vertikalen ausgestattet wurde, kann es dem Ottonormalkletterer, also mir, schon mal passieren, dass ich in einer 6+ ordentlich ins Schwitzen komme. Der Typ fühlt sich womöglich im 10. Grad zu Hause. Da kann man sich mit seiner Einschätzung der Kletterschwierigkeiten bei einer 6+ schon mal verhauen. In einer mit Bohrhaken übersäten Route mag das ja noch kein Problem sein. Aber hier ist weit und breit keiner zu sehen.

Meteora, für mich eines der aufregendsten und schönsten Klettergebiete der Welt. Links schaue ich hinunter auf meine Nachsteiger am „Traumpfeiler“ des Heiligen Geistes, eine 250 m lange Traumroute. Rechts Janina Graeber mit 200 m Luft unter dem Hintern in „Die Linie des fallenden Tropfens“ am Sourloti ebenfalls in Meteora. Die Autoren der einzig verfügbaren Kletterführer in diesem Gebiet sind übrigens zwei ganz berühmte Sachsen: Heinz Lothar Stutte und Dietrich Hasse.

Ach ja, die Sternchen: Kein-, Ein-, Zwei- und sogar Drei-Sternchenwege gibt es in dem Führer in meiner Hand. Ein Zwei- oder sogar ein Drei-Sternchenweg sollte mindestens einer sein, der besonders lohnend ist. Eine tolle Linie garantiert maximalen Kletterspaß bei beruhigend guter Absicherung in unserem speziellen Fall mit mobilen Sicherungsgeräten. Aber wenn der Autor nun Nerven aus Stahl hat und nur alle zehn Meter eine verlässliche Sicherung zur Nervenberuhigung braucht? 

Wir sehen schon: Alles ziemlich subjektiv. Der Autor ein übermäßig begabter Kletterer mit Nerven wie Drahtseile und schon schweben solche Menschen wie ich in Lebensgefahr. Vielleicht noch erwähnenswert: Wir reden gerade von Autoren, welche die Wege zumindest teilweise auch tatsächlich selbst klettern, die sie in ihre Führerwerke aufnehmen. Das ist keineswegs immer die Regel. Es wird auch oft abgeschrieben aus Führern, die auch schon mal abgeschrieben wurden.

Einer der schönsten Gipfel Skandinaviens ist der Hamaroyskaftet mit mir oben drauf. An diesem Gipfel braucht es einen guten Kletterführer, denn Bohrhaken sucht man auch hier vergeblich.

Doch was ich eigentlich sagen will: Es ist total schwierig und extrem arbeitsaufwendig, einen wirklich guten und verlässlichen Kletterführer zu verfassen. Sein Autor muss vor Ort recherchieren. Ganz oft ist das sonst wo. Er sollte sehr erfahren sein sowie viel und vor allem gut klettern, um eine möglichst große Anzahl von Routen tatsächlich auch selbst testen und dann einschätzen zu können. Er muss sich objektiv in Schwierigkeitsgrade einfühlen können. Eine 6+ sollte eben tatsächlich eine 6+ sein. Das hat ganz viel mit der großen Verantwortung zu tun, die ein Kletterführerautor für die Leute hat, die sein Werk irgendwann aus der Hand legen und voller Vertrauen in die Richtigkeit seiner Angaben in die Route einsteigen.

Links hat es meine Nachsteigerin gleich geschafft. Wir klettern auf dem Bild in Margheddie, einer großartigen Wand im Gebiet rings um Cala Gonone an der Ostküste Sardiniens. Maurizio Oviglia hat ein zweibändiges Mammutwerk über die Klettermöglichkeiten auf Sardinien geschaffen. Allein im Band 1 sind 3600 Routen beschrieben. Das muss man sich mal vorstellen! Rechts steigt mir Urs Zeller gerade die Schlüsselstelle an der „Gelben Kante“ der Kleinen Zinne nach.

Er sollte auch gut mit dem Fotoapparat umgehen können, um aussagekräftige Bilder von den Gipfeln und Wänden anzufertigen, die in seinem Führer Aufnahme gefunden haben. Er muss nicht nur die Routen gut beschreiben können, sondern uns auch verraten, wie wir den Felsen mitten im Wald finden und wie wir überhaupt zu dem Ort kommen, in dessen Nähe er steht. Am besten mit gut lesbaren und aussagekräftigen Karten.

Schick sind immer auch Informationen zu Land und Leuten, zur Geschichte des Kletterns in der jeweiligen Region, den dort ansässigen Erstbegehern und den Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Schließlich will sich der allseits interessierte Kletterer auch bilden, wenn es regnet und nicht nur in der Kneipe rumsitzen und seine Leber ruinieren. Apropos Kneipe! Den Weg zu ihr sollte der durstige Kletterer trotzdem unbedingt auch noch dem Führer entnehmen können.

Die Spazzacaldeira in der Albinia im Bergell ist eine wahre Fundgrube an schönen, gut abgesicherten Routen. Eine neben der anderen findet sich in der großartigen Wand. Aber zu finden wären die ohne den großartigen Führer „Nichts als Granit“ von Mario Sertori nie.

Mit anderen Worten: Einen guten, verlässlichen Kletterführer zu erarbeiten, wird in den seltensten Fällen mit dem Verdienen von Geld einhergehen. Zuviel Arbeit, zu groß der Aufwand. Das ist fast immer Hobby. Ich habe deshalb allergrößte Hochachtung vor der immensen Arbeit, die in einem solchen Führer steckt. Unter anderem auch deshalb liebe ich Kletterführer, verbringe viel Zeit mit ihnen und habe für meine Kletterführerbibliothek schon ein kleines Vermögen ausgegeben.

Links studiert Uwe Daniel den Kletterführer, um den völlig bohrhakenfreien Weg durch den 15 Seillängen umfassenden Südpfeiler des Stetind in Nordnorwegen zu finden. Rechts klettere ich gerade die Schlüsselstelle der „Vinatzer Führe“ am Dritten Sellaturm in den Dolomiten. (Foto: Urs Zeller)

Und genau das ist auch das einzige, was wir tun können, damit es auch weiterhin Enthusiasten gibt, die solche Bücher für uns Kletterer mit großer Sorgfalt erschaffen:

Wir müssen sie kaufen!

 

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3 Antworten

  1. Christian sagt:

    Du spichst mir aus der Seele. Kletterführer zählen auch zu meinen Lieblingsbüchern. Man behauptet sogar, dass ich sie auswendig kenne. Jedenfalls manche. Gerne nehme ich sie immer wieder in die Hand, um darin zu blättern. Um neue Ziele zu suchen oder um mich an Wege oder Gipfel zu erinnern, die man mal gemacht hat.
    Manche Kletterführer sind sehr aufwendig gemacht mit handgezeichneten Topos. In anderen stehen nur die Gipfel und Wege drin, ohne Fotos oder Lagepläne. Aber in jedem Kletterführer steck eine Menge Arbeit. Man kann nur den Hut ziehen vor den Leuten, die sich diese Arbeit für uns Kletterer machen.

  2. Ein Betroffener dankt herzlich für diese warme Worte!

    • Olaf Rieck sagt:

      Aber gern! An Dich habe ich dabei in der Tat auch gedacht! So viele Kletterführerautoren kenne ich ja nicht persönlich.

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