Messer am Hals

Am 23. August 2017, einem Mittwoch, schien die Sonne hoch über dem Bergell, als sich 3,1 Millionen Kubikmeter Gestein vom 3369 m hohen Pizzo Cengalo lösten. Mit 250 Kilometern in der Stunde rasten die Gesteinsmassen den Berg hinunter. Es dauerte nur 30 Sekunden bis die gigantische Gerölllawine durch das Bondasca-Tal gedonnert war und in Bondo eintraf. 500000 Kubikmeter Geröll und Schlamm erreichten den Ort. 99 Gebäude wurden beschädigt, ein Drittel davon mussten später abgerissen werden. Weiter oben im Bondasca-Tal wurden acht Menschen verschüttet. Bis heute konnten sie nicht gefunden werden.

Der Pizzo Cengalo vor dem Bergsturz. Eingekreist ist der Bereich, welcher abgestürzt ist. Quelle Wikipedia

Es ist aber keineswegs so, dass man auf solche Ereignisse unvorbereitet war. Der Pizzo Cengalo galt schon länger als eine Art Kranker, welcher viel Aufmerksamkeit benötigte. Es gab ein Alarmsystem. Unten im Tal befand sich ein Auffangbecken für Muren. Bewegungen von instabilen Felsmassen am Cengalo selbst wurden schon seit Jahren überwacht, weil immer wieder und zum Teil auch große Gesteinsmassen vom ihm abgebrochen waren. Doch das, was sich da am 23. August 2017 ereignete, überstieg jedes Vorstellungsvermögen.

Man wusste, dass ein großer Bergsturz kurz bevor stand. Geologen hatten ihn vorhergesagt, doch von der Größe des Ereignisses und vor allem von dem unmittelbar einsetzenden Murengang war man völlig überrascht. Muren entwickeln sich eigentlich nur dann, wenn intensiver Niederschlag voraus gegangen ist. Doch die Sonne schien schon seit Tagen von einem stahlblauen Himmel.

Die kilometerbreite Schneise die der Bergsturz durch den oberen Teil des Bondasca-Tal geschlagen hat. Hier werden auch die vermissten acht Bergwanderer vermutet. Auf dem Bild ist ganz winzig die Sciora-Hütte zu sehen.

Doch damit aus dem trockenen Bergsturz eine Mure entsteht, muss Wasser die Reibung reduzieren. Es vermengt sich mit dem Geröll zu einer seifenartigen Masse, die dann ins Tal gleitet. Doch wo kam das viele Wasser her? Dazu gibt es zwei Theorien: Die eine geht davon aus, dass die Gesteinsmassen auf einen darunter liegenden Gletscher stürzten. In Sekundenbruchteilen wurde dieser Gletscher pulverisiert und geschmolzen. Das so entstandene Wasser hat dann den gewaltigen Schuttstrom entstehen lassen.

Der untere Teil des Bondasca-Tales. Durch die kleine Janina sind die Dimensionen des Ereignisses zu ahnen. Wir befinden uns an dieser Stelle in etwa fünf Kilometer Entfernung vom Pizzo Cengalo.

Eine andere Theorie besagt, dass der Gletscher regelrecht weggesprengt und pulverisiert aber eben nicht geschmolzen wurde. Das Eis lagerte sich dann oben auf der Bergsturzmasse ab. Auch auf Grund von Augenzeugenberichten geht man neuerdings von einer anderen Wasserquelle aus. Die Berichte sprechen von „geysirartigen“ Wasserfontänen. Diese neue Theorie meint nun, dass die Felsmasse auf Sedimente fiel, in deren „Poren“ wie in einem Schwamm viel Wasser gespeichert war. Durch die Felsmassen wurde dieses Wasser herausgepresst und entwickelte die Gleitmasse, welche dann den gewaltigen Schuttstrom auslöste.

Als ich vor ein paar Wochen nach Bondo fuhr, um zum Piz Badile über die Sasc Furä Hütte aufzusteigen, wusste ich zwar von dem Bergsturz. Der war damals in allen Medien. Ich wusste aber rein gar nichts über die Konsequenzen, die dieses Ereignis bis heute in der Region hat.

Gleich an mehreren Stellen ist ein Warnsystem über dem Val Bondasca installiert.

Das Bergell ist ein Paradies für Bergsteiger. Piz Badile, Sciora-Gruppe, Pizzi Gemelli und eben auch der Pizzo Cengalo sind allesamt Traumziele. Um zu ihnen zu kommen, gibt es zwei perfekt gelegene Hütten: Die Capanna Sciora und die Capanna Sasc Furä. Um von der einen zur anderen zu kommen, muss man das obere Bondasca-Tal durchqueren. Doch dieser Weg, zum Teil bis zu 40 m hoch mit dem Geröll des Bergsturzes bedeckt, ist gesperrt und wird es wohl auch für immer bleiben.

Gesperrt ist auch der alte Aufstieg zur Sasc Furä-Hütte. Da er direkt aus dem Bondasca-Tal startet, wird diese Sperrung womöglich ebenfalls für immer gelten. Nachdem die Sasc Furä-Hütte über ein Jahr geschlossen war, ist sie nun wieder offen und auf einem neu angelegten Weg erreichbar. Doch jetzt ist der Wanderer vier bis sechs Stunden unterwegs, statt anderthalb auf dem alten Weg. Tagesgäste werden es sich nun wohl drei Mal überlegen, ob sie eine Neun-Stunden-Tour auf sich nehmen, nur um ein Bierchen mit Badile-Blick zu trinken.

Ein ganz besonderer Ort ist die Capanna Sasc Furä (1904 m). Sie ist nicht nur der Ausgangsort für alle Unternehmungen am Pizzo Badile und seinen direkten Nachbarn. Sie ist für mich auch gleich einer der schönsten und eindrucksvollsten Orte der gesamten Alpen.

Noch härter traf es die Sciora-Hütte. Sie ist bis heute geschlossen und alle Wege zu ihr gesperrt. Selbst der Weg von der Albigna über den Paso Cacciabella darf unverständlicherweise nicht begangen werden. Auch das gesamte Bondasca-Tal ist abgeriegelt.

Und selbst das Örtchen Bondo ist noch weit von der Normalität entfernt. Im Gegenteil. Eine Bergführerin aus der Region, mit der ich darüber sprach, formulierte dieses Bild vom „Messer am Hals“ der Gemeinde Bondo. Nachdem die Bündener Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung mit der Begründung eingestellt hatte, dass weder die Größe noch die Art des Ereignisses vorhersehbar waren, hat der Anwalt der Angehörigen der Opfer die Verfahrenseinstellung angefochten. Nun beschäftigt sich das Bündener Kantonsgericht mit der Frage, ob die Wanderwege zu den beiden genannten Hütten nicht zwingend hätten geschlossen werden müssen. Wenn entschieden wird, dass dies hätte geschehen müssen, kommen auf die Gemeinde Bondo riesige Schadensersatzforderungen zu.

Den Pizzo Cengalo (3369 m) ficht das alles gar nicht an. Hier im Bild vom Einstieg der Via Cassin am Pizzo Badile aus gesehen. Wir schauen auf seine Nordwestseite. Die drei Millionen Kubikmeter, die ihm seit dem 23. August 2017 fehlen, sieht man nicht einmal oder höchstens, wenn man weiß, wo man hinschauen muss.

Nachvollziehen kann ich das alles nicht so recht. Als ich 2015 das letzte Mal im Val Bondasca und zwischen den beiden Hütten unterwegs war, gab es überall Warnungen. Die Wege waren zwar offen aber eben nur auf eigene Gefahr zu begehen. Deutlich wurde auf die drohende Gefahr vom Pizzo Cengalo hingewiesen. Jeder wusste davon und hätte ihr durch Verzicht ausweichen können. Die acht getöteten Leute haben das ganz bewusst nicht getan. Dafür der Gemeinde die Schuld geben zu wollen, halte ich für nicht gerechtfertigt.

Die neue Brücke ist so gut wie fertig. Dann wird sicher auch bald der neue Zustieg zur Sciora-Hütte in Angriff genommen.

Ich würde mich freuen, wenn die Schweizer bald auch eine Lösung für die Sciora-Hütte und das Bondasca-Tal fänden. Gearbeitet wird daran schon, wie die neue Brücke oberhalb von Bondo zeigt. Auch hörte ich von dem Plan, einen komplett neuen Weg von Bondo zur Sciora-Hütte anzulegen.

Und weil die Natur sowieso macht, was sie will, würde ich auch nicht verbieten und bestrafen sondern die Leute eigenverantwortlich ziehen lassen mit dem deutlichen Hinweis, dass sie sich dann aber außerhalb des Einflusses des Menschen bewegen und sich deshalb auch nur selbst helfen können. Berge sind nun mal nicht von Menschen für Menschen gemacht, sondern sie sind wild, unberechenbar und mitunter auch gefährlich. Gerade deshalb sind sie ja so eindrucksvoll, schön und vor allem heilsam besonders für jede Art von Zivilisationsüberdruss. 

 

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Eine Antwort

  1. Barbara sagt:

    Wow! Das ist ein toll geschriebener Bericht und zusammen mit den Fotos auch sehr informativ. Für Bergell-Liebhaber eine Freude! Die Fotos zeige auch, dass die Natur so einen Schock einfach wegsteckt und sich in der neuen Normalität einrichtet.

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