Maurice Wilson 3, Aufstieg in den Tod

Seine fast schon kindliche Sorglosigkeit dem Berg gegenüber verblüfft mich am meisten. Was dachte sich Wilson dabei? Er, der noch niemals einen Berg bestiegen hatte, der aber sehr wohl die Expeditionsberichte von Bruce, Norton und Ruttledge kannte, der die Tagebücher Mallorys gelesen hatte, wollte vom Rongpu-Kloster aus allein in sechs Tagen den Gipfel des Everest erreichen? Wenn er wenigstens völlig ahnungslos gewesen wäre. Doch er wusste von den mörderischen Problemen seiner Vorgänger.

Nicht weniger als zehn Tote hatte es bei diesen drei Expeditionen gegeben. Und seine Vorgänger waren erfahrene Alpinisten und dazu hervorragend und nicht zu letzt mit der neuesten Technologie ausgestattet. Die Ausrüstungsliste Wilsons dagegen taugte bestenfalls für eine anspruchsvolle Bergwanderung. Bei seinem Aufbruch jedoch begleiteten ihn so viele gute Wünsche und Gebete der Rongpu-Mönche wie bei keinem anderen seiner Landsleute zuvor.

Karte vom Mount Everest mit den eingezeichneten Lagern von denen im Text immer wieder die Rede ist. Das Kloster Rongpu ist in nördlicher Richtung etwa eine reichliche Gehstunde vom Basislager entfernt und auf dieser Karte nicht mehr eingezeichnet. (Quelle: Wikipedia)

Ausgeschlafen und bei bester Laune schultert Wilson seinen schweren Rucksack und läuft los. Das Wetter ist perfekt, wolkenloser Himmel, kaum Wind. Nun, so glaubt er, kann ihn nichts mehr aufhalten.

Vier Tage später, an seinem Geburtstag, sitzt Wilson völlig ausgezehrt in seinem Zelt in einem Schneesturm. Sich immer wieder verlaufend, hat er nicht einmal das Lager 3 erreicht, von dem aus der eigentliche Aufstieg auf der Nordseite des Everest überhaupt erst beginnt. Er ist in seinem winzigen Zelt soweit vom Gipfel entfernt, wie die Erde von der Sonne. Nur weiß er das nicht.

Am nächsten Morgen lässt der Sturm nach, und er flieht hinunter vom Berg. Nur seinen Schlafsack und ein paar Lebensmittel nimmt er mit. Alles andere lässt er zurück. 16 Stunden stolpert, rutscht und fällt er den Berg hinunter, bis er schon halb im Delirium mitten in der Nacht Rongpu erreicht.

Das weltberühmte Kloster Rongpu, oft auch Rongbuk genannt, mit der Everest Nordflanke im Hintergrund. Es liegt auf 4950 m und ist damit das höchstgelegene Kloster der Welt und gleichzeitig einer der höchsten ständig bewohnten Orte der Erde. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt im Kloster bei -10° Celsius. Von den Chinesen wurde das Kloster in der Kulturrevolution 1974 zerstört und später allerdings nur teilweise wieder aufgebaut. Zu Wilsons Zeiten lebten bis zu 500 Nonnen und Mönche in Rongpu. Heute sind es nur noch wenige. (Foto: Wikipedia)

Drei Tage lang trinkt, isst und schläft Wilson, bis er wieder zu Kräften kommt. In seinem Tagebuch steht über diesen ersten Aufstieg am Berg: „Es gab wohl keine Situation in meinem Leben, die mehr Energie und Kraft von mir verlangt hat.“

Entmutigt hat das Wilson aber nicht. Im Gegenteil. Nachdem er sich erholt hat, schmiedet er sogleich einen neuen Schlachtplan. Diesmal sollen ihn zwei seiner drei Helfer bis zum Lager 3 begleiten. Er nutzt nun auch die Hinterlassenschaften seiner Vorgänger. Sie hatten eine Menge Ausrüstung und auch Proviant zurückgelassen. Am 12. Mai brechen Rinzing, Tewang und Wilson zum zweiten Versuch auf.

Wieder ist das Wetter gut und während es seinen beiden tibetischen Begleitern etwas mulmig ist, strotzt Wilson vor Optimismus. Sie kommen gut voran, Rinzing und Tewang kennen den Weg. Diesmal gibt es auch genügend Proviant. Schon am frühen Nachmittag des zweiten Tages erreichen sie den Ort, wo Wilson seinen Rucksack zurückgelassen hatte. Rinzing macht sich auf die Suche. Nach vielen Stunden findet er zwar den Rucksack, nicht aber Wilsons Steigeisen!

Die Route führt vom Lager 3 im Gletscherbecken unter dem Nordsattel (oder North Col) über den Nord- bzw. Nordostgrat zum höchsten Punkt. Diese Route ist bis heute einer der beiden Normalwege auf den Everest. (Quelle: Wikipedia)

Am nächsten Tag führt Rinzing die Gruppe ohne Umwege in das Gletscherbecken unter den Nordsattel in das dritte Hochlager. Zum ersten Mal sieht Wilson die überwältigende Szenerie der Everest-Nordflanke. Er schaut auf den Nordgrat, der in über 8400 m auf den Nordostgrat trifft. Er steht direkt vor der steilen Eiswand, die auf den 600 m über ihm gelegenen Nordsattel führt. Diese Wand ist neben der Felsstufe des Second Step auf dem Gipfelgrat eine der beiden Schlüsselstellen der Nordroute.

Rinzing findet das Vorratslager der Ruttledge-Expedition, und sie schwelgen in fast schon vergessenen Genüssen: Honig, Marmelade, Schokolade, Trockenmilch, Ovomaltine, Kekse. Wilson vergisst seine Diät, und er nutzt auch das immer noch schöne Wetter nicht, um den Weg auf den in 7000 m Höhe gelegenen Nordsattel zu erkunden.

Dann ist es vorbei. Tagelang bläst der Schneesturm. Erst am 21. Mai bessert sich das Wetter. Wilson packt seinen Rucksack und bricht auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Abflug in London zum Nordsattel auf. Rinzing begleitet ihn. Hier oben gibt es keine Spuren mehr von der Ruttledge Expedition. Wilsons Hoffnung, auf alte Fixseile zu stoßen, zerschlägt sich rasch.

Da er keine Steigeisen mehr hat, muss er mühsam Stufen in das steinharte Eis schlagen. Er hat das noch nie gemacht. Rinzing zeigt es ihm. Doch Rinzing verlässt ihn bald, weil er vor der Dämmerung zurück im Lager 3 sein will.

Besessen arbeitet sich Wilson nun allein weiter nach oben. Doch die Hackerei mit dem Pickel erschöpft ihn schnell. Bald muss er sich einen halbwegs ebenen Schlafplatz zurecht pickeln. Weil er zu geschwächt ist, unterlässt er es, zu kochen.

Auch am nächsten Tag kämpft er immer noch unverdrossen mit seinem Pickel. Eine riesige, mehrere Meter breite Querspalte, die den ganzen Hang zerteilt, überwindet er ungesichert auf einer Schneebrücke. Er braucht viel zu viel Zeit. Bald ist er so am Ende, dass er sich abermals ein sehr ungemütliches Nachtlager bereitet und nach ein paar Keksen einschläft.

Auf diesem Foto schauen wir aus nordöstlicher Richtung auf den Everest. Sehr gut zu erkennen sind die beiden Grate der Nordroute. (Foto: Wikipedia)

Am Tag darauf gelangt er bis unter die fast senkrechte Schlusseiswand. Zirka 15 bis 20 Meter hoch ist sie, wie erwähnt, eine von den beiden technisch anspruchsvollsten Stellen der Nordroute. Hier steht Wilson nun, zu Tode erschöpft, völlig dehydriert, mit einem fast unbrauchbaren linken Arm und ohne Steigeisen. Aber er gibt immer noch nicht auf. Erst als er am Ende des Tages feststellt, dass seine Streichhölzer nass geworden sind, sieht er ein, dass es ohne Essen und Trinken nicht weitergehen kann.

Er steigt ab. Rinzing kommt ihm entgegen. Wieder ist Wilson am Ende seiner Kräfte. Für Rinzing und Tewang ist nun klar, dass Wilson keine Chance hat. Sie konnten ihn die ganze Zeit vom Lager 3 aus beobachten. Die beiden freuen sich darauf, nun endlich heimkehren zu können. Doch zu ihrer Überraschung fordert Wilson die beiden auf, ihn bei einem weiteren Versuch hinauf zum Nordsattel zu begleiten. Doch jetzt weigern sie sich. Sie wissen, dass es Tote geben wird, wenn sie noch einmal aufbrechen. Sie alle sind mit ihren Kräften am Ende. Außerdem machen die ersten Ausläufer des Monsuns das Wetter immer unsicherer.

Drei Tage versucht Wilson die beiden vergeblich zu überreden. Dann verkündet er seinen fassungslosen Helfern, dass er allein gehen wird.

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