Teil 2 – Mut, die gefährliche Tugend

Ich bin vor ein paar Jahren für eine sehr aufwendige Veranstaltung engagiert worden. Ein Autobauer präsentierte sein neues Flaggschiff. Eine beeindruckende Show. Geld spielte offensichtlich keine Rolle. Das Motto des Abends lautete „Mut verändert alles“, und ich sollte etwas zu diesem Thema beitragen.

Das Auto wurde präsentiert, ich wurde zum Thema Mut befragt. Das Buffet war ganz großartig. Ich schrieb eine schöne Rechnung. Fertig. Scheinbar ein Abend wie viele. Doch diesmal war es anders. Mich ließ dieses Thema nicht los. Was ich da zum besten gegeben hatte, befriedigte mich ganz und gar nicht. 

Verändert Mut wirklich alles? War das tatsächlich ein passendes Motto für die Präsentation eines sündhaft teuren Autos? Was hat ein Porsche, welcher fast eine Viertelmillionen Euro kostet, mit Mut zu tun? Ich hatte keine Ahnung. Wahrscheinlich braucht es eine Menge Mut, um seiner Frau zu beichten, dass man sich gerade ein solches Fahrzeug zugelegt hat. 

Für mich war dieser Abend vor allem Inspiration. Denn Mut ist ein hochspannendes Thema, und ich begann, mich eingehender damit zu beschäftigen.

Wozu braucht man heutzutage in unserer rundherum kaskoabgesicherten Welt noch Mut? Und was ist Mut überhaupt?

Ist Mut eine Tugend? Oder eher eine schwachsinnige Eigenschaft, die einen ständig in Gefahr bringt? Mut ist auf alle Fälle ein gewagtes Thema. Und zwar nicht nur, weil Mut auch schon mal blutig bestraft werden kann. Schon der Versuch ihn zu definieren, erweist sich als überraschend schwierig. Eigentlich weiss keiner so genau, was Mut überhaupt ist. 

Wer freiwillig ein persönliches Risiko eingeht, handelt mutig. Wenn das wirklich so wäre, dann sind Terroristen, die in Flugzeugen sitzen bleiben, bis sie einschlagen, sehr mutige Leute. Das träfe dann ganz gewiss für Glücksspieler, Drogendealer oder Bankräuber ebenfalls zu. Aber so ist es nicht. Es muss noch etwas hinzukommen. Wenn wir ein Wagnis bewundern, dann muss es ein nobles Ziel haben. 

Der Prototyp eines großartigen Zieles: Ein schwieriger 8000er! Was habe ich in diesen Berg an Zeit, Kraft und Geld investiert. Und was war nun der Lohn für den Mut, auch noch ein drittes Mal diesen Bergriesen anzugehen, ohne zu wissen, ob es dieses Mal nun tatsächlich klappt? Ich habe an diesem Berg viel über mich und andere gelernt. Und noch heute erfüllt es mich mit Stolz, dass und vor allem wie wir uns diesen Berg erkämpft haben.

Und schon bekommen wir ein neues Problem. Was ist ein höheres, ein nobles Ziel? Kann Mut tatsächlich nur gut sein, wenn er sinnvoll eingesetzt wird? Wenn wir einen Menschen mutig finden oder eben nicht, dann fragen wir uns: Warum macht er das? Und die Antwort muss uns gefallen. 

Und an dieser Stelle taucht für mich sogleich die Frage aller Fragen auf: Sind die Ziele von Kletterern und Bergsteigern überhaupt sinnvolle Ziele? 

Kann MIR die Antwort gefallen, die ich mir geben kann, wenn ich mich frage, wozu ich im brüchigen Sandstein herumturne oder auf 8000er steige? Doch gerade diese Antwort ist das alles entscheidende. Einerseits weil nur aus ihr die enormen Triebkräfte entstehen können, die notwendig sind, um Jahr für Jahr aufwendige Projekte durchzuziehen. Andererseits schützt mich die Antwort vor mir selbst. Just in dem Moment, wo sie mir nämlich nicht mehr gefällt, sollte ich gar nicht erst aufbrechen, oder umkehren oder womöglich ganz und gar damit aufhören! 

Kentertraining auf dem Greifswalder Bodden. Es war mir buchstäblich ein Graus, mit meinem Kajak absichtlich zu kentern, um mich unter Wasser mit dem Kopf nach unten zuerst aus dem Boot raus und dann wieder hinein zu quälen, ohne dabei zu ersaufen. Aber wir wollten ja unbedingt mit dem Kajak über die Magellanstraße paddeln, um zum Monte Sarmiento zu kommen. Und dort sollte man das tunlichst gut können!

Doch was treibt uns dazu, freiwillig Situationen aufzusuchen, wo wir im Kampf gegen die Schwerkraft all unseren Mut brauchen und es uns manchmal unendlich schwer fällt, Herr über unsere Angst zu bleiben? Ist es Größenwahn? Brauchen wir diese starke, mit der Angst immer einhergehende Erregung? Oder müssen wir uns laufend selbst bestätigen, wie einzigartig und unverwundbar wir sind? Alles davon spielt eine Rolle. Das eine bei dem einen mehr und dem anderen weniger. Besonders interessant und zwar gerade jetzt in dieser äußerst merkwürdigen Zeit, ist noch ein weiterer sehr spannender Aspekt.

Ich glaube, dass wir uns immer mehr von unseren Wurzeln entfernen in unserer technisierten, durch und durch abgesicherten und zunehmend undurchschaubaren Welt. Echtes Risiko und die damit einhergehende Angst sind fast ganz aus unserem Leben verschwunden. Das ist unstrittig, wenn wir uns die Gefahren vor Augen führen, denen ein ganz normaler Jäger und Sammler über aberhunderttausende von Jahren nahezu schutzlos ausgeliefert war. Die Furcht um Leib und Leben hat uns über die 2,8 Millionen Jahre, die wir uns schon „Homo“ nennen dürfen, jeden einzelnen Tag begleitet.

Der Monte Sarmiento auf Feuerland. 600 m nahezu senkrechtes Raueis. Ein sicherungstechnischer Alptraum. Über meinen Mut, dort überhaupt einzusteigen, wundere ich mich noch heute! ABER trotzdem wir unser Ziel an diesem grandiosen Berg knapp verfehlt haben, war das meine abenteuerlichste Expedition überhaupt. Niemals möchte ich die Erlebnisse dort missen. Auf dem Foto sichert mich Falk Liebstein an einem Stand hoch oben in der Wand.

Der jahrtausendelange Umgang mit Gefahren und den aus ihr resultierenden Ängsten hat uns schlau werden lassen und uns zu diesen derart erfolgreichen Überlebenskünstlern gemacht, die wir sind. All das geht uns gerade verloren und mit dieser Tatsache haben wir zunehmend ein Problem! In Ermangelung von realen Gefahren ängstigen wir uns zunehmend vor allem möglichen: Impfstoffen, Kondensstreifen, Bill Gates, Fahrstühlen, Fremden… Die Aufzählung ließe sich bis zur Erschöpfung fortsetzen. Es gibt 650! wissenschaftlich anerkannte Phobien! Die Psychologen reden von einer Leerlaufhandlung des Angsttriebes. Und die Indizien, dass dies alles andere als ein Psychologenhirngespinst ist, sind äußerst schwerwiegend.

Könnte das auch eine Antwort sein auf die Frage aller Fragen von uns Bergsteigern? Suchen wir auf dem Weg zu unseren Zielen nach echtem Risiko, weil wir uns langweilen? Oder psychologischer ausgedrückt, weil unsere Angstbereitschaft besonders niedrig ist? Welches ist die Antwort, die ich mir gebe, wenn ich, wie gerade erst im vergangenen Sommer am Presten auf den Lofoten in einer Route hänge und mir keineswegs mehr sicher bin, ob die Sache auch gut ausgeht?

Der Presten ist der unbestrittene König unter den Granitriesen der Lofoten. Seine Südwand erhebt sich drohend und gleichzeitig verführerisch aus dem Fjord nahe dem Örtchen Henningsvaer. Ein Ziel, welches eine geradezu planetarische Anziehungskraft auf uns ausübte. Doch mir machte die Tatsache schwer zu schaffen, dass es weder Stände noch Bohrhaken in der einzigen für uns dort kletterbaren Route gibt, ein Rückzug aus der mehr als 500 m langen Tour deshalb so gut wie unmöglich ist. Dazu kam dann noch, dass die Kletterschwierigkeiten hart an der Grenze dessen liegen, was ich überhaupt klettern kann. Hier war mein Mut wirklich eine gefährliche Tugend. Doch der Gedanke daran, dass ich es trotzdem gewagt habe, wird mir bis an Ende meiner Tage ein Hochgefühl verschaffen.

Wenn ich an einem Berg unterwegs bin, ist das für mich ein Weg aus der Unsicherheit heraus zur Sicherheit hin. Es ist tatsächlich nichts anderes als eine Art Training für mich. Denn diesen Weg beschreite gerade ich tagtäglich auch in meinem richtigen Leben, wenn ich Gewohnheiten über Bord werfe, mich mal wieder die Existenzangst plagt oder ich mir ein anspruchsvolles, neues Ziel vornehme. 

Schneebrettgefahr! Schwierige Verhältnisse am Quitaraju in Perus Cordillera Blanca. Jacob und ich klettern hier die Nordwand. Ich hatte einen Bergsteiger im Basislager gebeten, mit meiner großen Kamera, die mir am Berg zu schwer war, Bilder von uns zu machen. Dieses grandiose Foto ist dabei herausgekommen.

Sicherheit, die wir in Routine und Gewohntem suchen, ist in unserer sich rasend schnell verändernden Welt trügerisch. Sicherheit entsteht immer nur durch mutiges Handeln. Und die wirklich wesentlichen Sicherheiten sind nicht materiell. Man kann sie nicht kaufen. Man muss sie sich erkämpfen! 

Die Leute, die wir bewundern, weil sie so sicher durchs Leben gehen, als machten sie das nicht zum ersten Mal, sind immer diejenigen, die mutig Risiken auf sich nehmen. Jene die beherzt tätig sind, die einen langen Weg hinter sich haben. Die Ängsten und Selbstzweifeln begegneten. Die den Mut aufbrachten, sich ihnen zu stellen und nur deshalb auch die Chance bekamen, sie zu beherrschen und zu überwinden.

Dafür ist das Klettern und Bergsteigen ein perfektes Lernfeld und gleichzeitig eine Quelle von echtem und lang anhaltendem Glück. Das Privileg aus ihr schöpfen zu können, wann immer wir es nötig haben, ist eine gute Antwort!

zu Teil 1 – Die Crux mit der Angst

zu Teil 3 – Demut

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