Oscar Eckenstein
Er sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus dieser Mann, der da im Jahr 1909 die Werkstatt des Schmieds Henri Grivel in Courmayeur betritt. Er ist ärmlich bekleidet, hat einen langen Bart und raucht eine stinkende Pfeife. Er nennt sich Oscar Eckenstein und hat einen Auftrag für Grivel. Diesem kommt es reichlich unnütz vor, was der Fremde da von ihm verlangt und womöglich fürchtet der Schmied auch um seinen Lohn. Woher soll Grivel auch wissen, dass der Gegenstand auf der Zeichnung, welche ihm dieser Mann vorlegt, das Bergsteigen von Grund auf revolutionieren und ihn, Grivel, reich machen würde.
Oscar Eckenstein wurde am 21. September 1859 in der Nähe von London geboren. Sein Vater, Friedrich Gottlieb Eckenstein, war Deutscher, der aber die Heimat wegen seiner sozialistischen Gesinnung 1848 verlassen musste. In England heiratete er Julie Amalie Antonia mit welcher er zwei Töchter und einen Sohn hatte. Der Vater etablierte sich in England als Kaufmann und gehörte schon bald der wohlhabenden Mittelschicht an.
So konnte der sehr begabte Oskar eine gute Schule besuchen und studierte in London und Bonn Chemie. Später arbeitete er als Ingenieur für eine Organisation, die sich mit der Lösung technischer Fragestellungen im Eisenbahnwesen beschäftigte.
Schon mit 13 bestieg er seinen ersten Berg, mit 27 ist er das erste Mal in den Alpen. Er machte sich einen Namen in der Szene, kletterte mit den besten seiner Zeit, war sogar ein Lehrer von Paul Preuß. 1892 wurde er von Martin William Conway, dem späteren Präsidenten des britischen Alpenvereins auf eine Expedition in das Baltoro-Muztagh-Gebiet im inneren Teil des Karakorum Gebirges eingeladen. Zehn Jahre später war Eckenstein selbst Leiter einer österreichisch-britischen Expedition zum K2. Auf dieser Expedition wurde bei dem Versuch der Besteigung des zweithöchsten Berges der Erde mit 6600 m ein neuer Höhenweltrekord aufgestellt.
Eckenstein, ehemaliger Turner, war ein durchtrainierter Athlet, der sich durch außergewöhnliche Kraft auszeichnete. Er konnte sogar Klimmzüge mit nur einem Arm machen. Außerdem war er ein gewandter Kletterer, der, seiner Zeit weit voraus, auch ein Pionier des Boulderns war.
Doch nichts von dem hätte dazu geführt, dass man sich noch heute an ihn erinnert. Ganz im Gegenteil. Vor allem in seiner Heimat England wurde der Jude und Sozialist Eckenstein, der Konventionen verachtete, abgerissene Kleidung trug und in der Stadt sowohl im Sommer als auch im Winter in ärmlichen Seilsandalen herumlief, nie anerkannt.
Doch die Zeichnung, die er 1909 zu Henri Grivel nach Courmayeur trug, wird ihn zwar nicht reich und berühmt aber immerhin unsterblich machen. Eckenstein, der erfahrene Alpinist, der schon am K2 geklettert ist, hat seine Idee eines zehnzackigen Steigeisens aufgezeichnet, welches man mittels Riemen auf die gesamte Schuhsohle schnallt. Grivel soll den Prototyp schmieden.
Erfunden hat Eckenstein die Steigeisen aber nicht. Schon im antiken Rom sollen sie von Spionen verwendet worden sein, um sich in schwierigem Gelände sicher fortbewegen zu können. Im 16. Jahrhundert gab es bereits vierzackige Eisen für Holzarbeiter, Jäger und Mineraliensucher.
Beim Bergsteigen setzten die Bergführer aber bis in das 20. Jahrhundert hinein auf Nagelschuhe und auf das anstrengende Stufenschlagen. Bei langen Touren schlugen die Führer nicht selten tausende von Stufen, wodurch das Steigen langsam und extrem anstrengend war.
Die Weiterentwicklung der eisernen Steighilfen zu echten Steigeisen in der noch heute gebräuchlichen Form geht aber auf Oscar Eckenstein zurück. Und nun sollte man meinen, dass diese sehr effektiven Steigeisen sogleich einen Siegeszug in der Welt des Bergsteigens antreten würden. Aber dem war nicht so. Eckensteins Landsleute, die Engländer, damals die führende Bergsteigernation, lehnten die Steigeisen als eine Art Betrug am Berg ab. Edward Whymper nannte sie „künstliche Hilfsmittel, auf die man sich in steilen Hängen nicht verlassen könne.“
Interessant auch, was Emil Zsigmondy, einer der bekanntesten und erfolgreichsten Bergführer in Zermatt zu Steighilfen an den Schuhen meinte: Die Bergführer in Zermatt verwenden sie deshalb nicht, weil das Stufenschlagen überflüssig würde und deshalb das Ansehen der Führer bei ihren Kunden Schaden nähme.
Aber der Siegeszug der Steigeisen war nicht mehr aufzuhalten, vor allem weil das Militär sie verwendete. Mit den Eisen von Eckenstein konnte man sich problemlos auf bis zu 35° geneigten Firn- und Eisflanken fortbewegen, ohne Stufen schlagen zu müssen. Die Technik des Gehens, die man dazu beherrschen muss, wird noch heute „Eckensteintechnik“ genannt. Es müssen alle vertikal nach unten zeigende Zacken auf die Eisoberfläche eingesetzt werden. Dabei werden die Fußgelenke allerdings stark beansprucht.
Am 30. Juni 1912 veranstaltete Eckenstein auf dem Brenva-Gletscher an der Südseite des Mont Blanc einen „Concours de Cramponneurs“ (Wettkampf der Steigeisengeher). Er wollte die Nützlichkeit seiner neuen, komfortablen Steigeisen demonstrieren. Eine ziemlich geniale Marketingstrategie, wie ich finde. Bergführer und Träger aus Courmayeur maßen sich untereinander mit den neuartigen Eisen unter ihren Füßen. Und es war absehbar, dass die Vorzüge dieser neuen Steigeisen viele der dort arbeitenden Bergführer überzeugen musste. Das sprach sich natürlich herum. Und schon bald setzten sich die neuen Geräte rund um den Mont Blanc durch und Grivel befriedigte den ständig wachsenden Bedarf.
Doch Eckensteins Steigeisen fehlte eine ganz wesentliche Komponente. Und es dauerte noch einmal 20 Jahre bis endlich jemand auf diese doch eigentlich naheliegende Idee kam. Erst durch diese neuerliche Innovation wurde das Steigeisen zu dem, was es bis heute in nahezu unveränderter Form geblieben ist: Eine universelle Steighilfe auf Firn, Eis und neuerdings auch Fels in buchstäblich jeder denkbaren Steilheit. Diese Neuerung fügte Henri Grivels Sohn Laurent dem Eisen Eckensteins hinzu: Die Frontalzacken. Erst sie ermöglichen das Begehen selbst senkrechter Passagen in glashartem Wassereis.
Warum ich gerade an den Erfinder des modernen Steigeisens denken musste? Ich habe in den vergangenen Tagen die Ausrüstung für das nächste Eiskletterabenteuer zusammengepackt. Gestern ging es in die Hohen Tauern. Heute schon sind wir zum ersten Mal im steilen Eis unterwegs. Das Steileisklettern an gefrorenen Wasserfällen ist ganz sicher eine der aufregendsten aber auch körperlich und mental forderndsten Spielarten der verschiedenen Disziplinen des Bergsports.
Wer mehr darüber erfahren möchte, wird hier fündig:
Ein hochinterassanter Beitrag zur Geschichte des Kletterns. Der darf nicht verloren gehen! Wo hast Du ihn gefunden? – Man macht sich darüber keine Gedanken, wenn man Steigeisen anlegt. Prima, Olaf!
Hartmut
Lieber Hartmut, diesen Artikel habe ich nicht gefunden, sondern zum Thema Steigeisen und Oscar Eckenstein recherchiert und dann in dieser Form aufgeschrieben, was ich dazu gefunden habe.