Das Ziel ist alles? Teil 2

Ein anderes, sehr drastisches Beispiel für die zerstörerische Kraft, welche selbstgesteckte Ziele auslösen können, und das mich bis heute beschäftigt, ist die Begegnung mit spanischen Bergsteigern am Cho Oyu. Dieser Gipfel ist mit 8201 Metern der sechsthöchste Berg unseres Planeten. Bei meiner erfolgreichen Besteigung überholte ich im Aufstieg in etwas über 8000 Metern Höhe drei spanische Alpinisten. Sie lagen im Schnee, um sich auszuruhen, sagten sie. Es war unübersehbar, dass sich die drei in einem bedenklichen Zustand befanden. Doch alle Beschwörungen auf der Stelle umzukehren, trafen auf taube Ohren.

Der 8201 m hohe Cho Oyu mit seiner grandiosen Südostseite, welche in Nepal liegt. Die Grenze zu Tibet verläuft über den Gipfel. Das Foto habe ich am frühen Morgen von der Gokyoalm aus aufgenommen. Unsere Besteigung startete auf der tibetischen, also der gegenüber liegenden Seite.

Diese Jungs waren wie Maschinen auf den Gipfel programmiert. Um nichts in der Welt wollten sie so kurz vor ihrem Ziel aufgeben. Nie wieder würden sie ein zweites Mal so hoch kommen. Es hatte keinen Zweck, diese drei waren wohl verloren. Und tatsächlich. Nur einem von ihnen begegnete ich jemals wieder. Er konnte sich, ohne den Gipfel erreicht zu haben, bis ins Lager 3 auf 7500 m retten und wurde dann in einer aufwendigen Aktion von mehr als 30 Bergsteigern ins Basislager geschafft.

Trotz aller Versuche hier noch was zu retten, mussten alle Finger amputiert werden.

Dort nahm sich dann die Ärztin unserer Expedition seiner an. Allerdings hat ihn seine Besessenheit alle zehn Finger gekostet. Ein wirklich dramatisches Beispiel für das Phänomen extremer Zielorientiertheit. Leider ist das nur eines von vielen, die ich in den 35 Jahren meiner Alpinistenlaufbahn erlebt habe. Die große Ernsthaftigkeit dieses Sports resultiert also keineswegs nur aus den objektiven Gefahren am Berg.

Ich weiß, dass sich das alles ziemlich ungut anhört. Besessenheit ist nun mal ein negativ besetzter Begriff. Ich aber sehe das anders und stehe dazu. Ohne eine gehörige Dosis Besessenheit sind extrem schwierige Ziele nicht zu erreichen. Nur mit einer äußerst starken Zielfixierung kann man die große Portion Leidensfähigkeit und Härte überhaupt aufbringen, die so ein schwieriger Gipfel von einem einfordert.

Die linke Hand von Kim Hong-bin. 1991 verlor er bei einer Solobesteigung des Denali in Alaska nach schweren Erfrierungen sämtliche Finger an beiden Händen. Trotz dieser Behinderung bestieg er in Folge alle vierzehn Achttausender!! Ich begegnete ihm 2019 am Hidden Peak. Es war die Nummer 13 auf Kims Liste. Nach der erfolgreichen Besteigung seines 14. Achttausenders, dem Broad Peak, stürzte er beim Abstieg in den Tod!

Das wesentliche dabei ist, sich all dessen bewusst zu sein und zu lernen, damit umzugehen. Dass heisst bei uns vor allem, die Realitäten nicht aus den Augen zu verlieren und sie zu akzeptieren. Das ist die eigentliche Kunst beim Expeditionsbergsteigen.

Ziele zu haben, ist extrem bedeutend. Sie prägen unser Leben. Sie sind sogar etwas wie ein Lebenselexier. Ich habe lange darüber nachgedacht, warum sich Menschen immer wieder aufs neue freiwillig solchen Alpträumen aussetzen. Ist es die grenzenlose Faszination für Fels und Eis? Sind es die einschneidenden Erlebnisse mit sich selbst und seinen Ängsten? Atemberaubende Tiefblicke? Der Adrenalinkick an der Sturzgrenze?

Von einem auf den anderen Augenblick kann aus einer Bergtour, die eben noch entspannt und freudig vonstatten ging, ein Kampf auf Leben und Tod werden. Dazwischen liegt nur ein Wettersturz.

Das alles spielt natürlich eine sehr große Rolle, reicht aber nach meiner Meinung nicht wirklich aus, um das Phänomen zu erklären. Denn ich ahne, dass Musiker, Chirurgen, oder auch Marathonläufer und Radsportler ähnlich spannende Dinge erleben. Doch gerade jene, die diese aufregenden Erlebnisse in den Bergen suchen, werden immer mehr.

Das Bergsteigen und vor allem das Klettern erlebt gegenwärtig einen ungeheuren Boom. Der ist nicht allein mit den Erlebnissen zu erklären, die gerade dieser Sport verschafft. Womit aber dann?

Klettern in der Sächsischen Schweiz ist noch heute eine sehr ernste und deshalb extrem befriedigende Sache.

Wir kennen einen wichtigen Teil der Antwort schon. Es ist die Qualität der Ziele gerade beim Klettern und Bergsteigen und vor allem das, was sie mit uns machen. Aber natürlich ist und bleibt die Qualität des Erlebens auf dem Weg zu unseren Zielen der andere Teil dieser Antwort.

Klare und starke Ziele, die Emotionen auslösen können, machen den wichtigsten Antrieb von uns Menschen aus. Sie geben unserer Begeisterung dauerhaft Nahrung. Sie können in uns das Verlangen auslösen, welches uns auch dann noch vorwärts treibt, wenn wir unsere Komfortzone verlassen müssen. Das habe ich auf meinen Bergtouren wieder und immer wieder erlebt. Und nun wäre es sehr vorteilhaft, wenn wir diese Erfahrungen auch runter in die Ebene transferieren könnten!

Meine Gäste 2019 auf dem Gipfel des 6169 m hohen Nirekha Peak in der Everest-Region im Nordosten Nepals. Im Hintergrund der 8201 m hohe Cho Oyu (Bildmitte) und der Gyachung Kang rechts daneben. Mit 7952 m der höchste Siebentausender der Welt.

Doch machen wir uns nichts vor. Es ist selten möglich, uns hier unten Ziele zu verschaffen, die dann begeistert oder sogar besessen und bis zur Selbstaufgabe verfolgt werden. Wir müssen erst einmal in uns gehen und unseren wahren Zielen auf die Spur kommen. Und ganz oft müssen wir nicht einmal das, weil Ziele vor allem bei unserer Arbeit häufig VORGEGEBEN sind und nicht ausgesucht werden können. 

Und diese Ziele sind dann oft gar keine richtigen Ziele. Sie sind nicht greifbar und auch nicht oder nur schwer zu visualisieren. Es sind einfach nur Zahlen und die lösen bei uns alles mögliche aus, nur keine positiven Emotionen.

Ich klettere den großartigen Weg „Licht meines Lebens“ in Ostrov am Wurzelstein. Mich zu trauen, in einen bestimmten elbsandsteinernen Weg einzusteigen, ist regelmäßig ein Ziel von mir. Manchmal schleiche ich Jahre um solche Projekte herum. Umso großartiger fühlt es sich an, wenn ich es dann irgendwann gewagt habe und keinen Sack aufhängen musste. (Foto: Laureen Schaper)

Greifbare Ziele, für die es lohnt, sich aufzuopfern, sind rar geworden. Vor allem im Berufsleben.

In den Gesprächen auf meinen manchmal wochenlangen Touren in den Alpen oder im Himalaya kommt man seinen Gästen häufig sehr nah. Frust im Job sind oft das wichtigste Thema. Mein Haus, mein Auto, mein Garten, meine Kinder und mein nächstes Reiseziel sind die anderen Gesprächsthemen. 

Wir leben in einer immer ungeduldigeren Gesellschaft, die sich nur auf den momentanen Nutzen fixiert. Wo sollen sie dann aber herkommen, die langfristig angelegten Ziele, die unsere Motivation, unseren Arbeitseifer auch über lange Zeit nicht erlahmen lässt?

Doch keine Ziele zu haben, bedeutet vor allem Ungewissheit, das Fehlen von Verpflichtung und Orientierung. Das Gefühl für andere notwendig zu sein, also eine persönliche Bedeutung zu besitzen und durch seine Arbeit eine Identität zu erlangen, kann nicht oder nur schwer entstehen. 

Claudia hat ihr Ziel fest im Blick, den Mont Blanc. Und sie hat ihn in souveräner Manier auch erfolgreich bestiegen.

Diejenigen, welche die Gefahr erkannt haben, beginnen in anderen Lebensbereichen als an ihrem Arbeitsplatz nach Zielen aber auch nach Bindung, Tiefe und vor allem Orientierung zu suchen.

Wir Menschen brauchen Orientierung wie die Luft zum Atmen. Denn gerade die Orientierungslosigkeit ist in unseren Zeiten ein riesengroßes Problem. Selbst die falscheste Orientierung heißen wir willkommen, wenn der Pfad unseres Lebens durch eine Wüste führt, in der kein Wegweiser steht. Corona hat uns das äußerst schmerzhaft vor Augen geführt. Uns ist irgendwann jede krude Bedeutung lieber als keine.

Die Gründe für diese regelrecht ausufernde Konjunktur des Sensation Seekings liegen also klar auf der Hand. Und nicht nur für mich. Denn diese Zusammenhänge sind auch schon schlaueren Leuten aufgefallen. Das muss schwerwiegende Gründe haben. Einige habe ich hier versucht, herauszuarbeiten. Doch es ist spannend, wie ich finde, dass dieser Boom gerade beim Klettern und Bergsteigen so besonders augenfällig ist.

Die Reise im Sommer 2024 zum 7022 m hohen Spantik im pakistanischen Karakorum war einer der Höhepunkte in meiner Führungstätigkeit. Sechs Teilnehmer haben den Gipfel dieses herrlichen Siebentausenders erreicht.

Wenn ich mich nun selbst frage, warum ich so sehr den Bergen verfallen bin, dann ist die Antwort ganz simpel. Ich brauche ich nur daran zu denken, wie ich mich fühle, wenn ich irgendwo ganz oben stehe und mir die Welt zu Füßen liegt. Dann spüre ich eine Befriedigung, die ich nirgendwo anders finden kann. Schon gar nicht hier unten in der Ebene. Denn etwas Mächtiges halten die Berge für uns bereit.

Auf ihnen erleben wir ungezähmte Natur, die sich der Mensch eben noch nicht völlig untertan gemacht hat. Wir erleben eine Wildnis, die uns zum Staunen einlädt. Die unsere Seele öffnet. In der wir uns gleichzeitig ganz klein aber eben auch ganz groß fühlen können.

Mario Rückert am Gipfel des Ortler mit dem berühmten Gipfelkreuz bei Sonnenuntergang.

Und die Palette der Wunder, auf die wir hier treffen, ist schier unendlich. Sie reicht vom Mount Everest bis zu einer 30 Millionstel Gramm leichten Schneeflocke, die auf unserer Handfläche schmilzt. Berge können buchstäblich jedem von uns etwas mit auf den Weg geben. Und dazu müssen sie nicht bewältigt oder dominiert werden, obwohl immer mehr Leute sich ihnen genauso nähern. Speedbergsteigen ist die neue Mode. Berge werden zu Sportgeräten degradiert, anstatt ihre Schönheit zu bewundern und ihre Geheimnisse zu ergründen.

So belohnen uns die Berge also nicht nur mit Fernsichten und einer hohen Qualität des Erlebens sondern vor allem auch mit Einsichten, die hier unten in der Ebene oft nur schwer zu haben sind.

Das einzige was wir dafür tun müssen, ist hingehen!

 

Ein spannendes, unfallfreies und vor allem gesundes Bergjahr 2025 wünsche ich allen treuen Lesern dieses Blogs. Auf das uns die (Gipfel)Ziele nicht ausgehen und uns immer eine handbreit Luft unter dem Hintern bleibt!

Ihr und Euer Olaf Rieck

 

 

 

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4 Antworten

  1. Ingrid Hoppe sagt:

    Lieber Olaf, immer wieder spannend Deine Berichte zu lesen .

  2. Detlef Weyrauch sagt:

    Lieber Olaf, da hast du wieder sehr schön deine Gedanken, Gefühle und deinen inneren Antrieb für deine Lebensart beschrieben. Vieles finde ich bei mir wieder, wenn auch meine Ansprüche an Höhe, Schwierigkeit und Gefahren der Unternehmungen deutlich geringer sind. Als ich deinen Satz „Ich brauche nur daran zu denken, wie ich mich fühle, wenn ich irgendwo ganz oben stehe und mir die Welt zu Füßen liegt.“ las, fielen mir spontan folgende Verse ein, die ich vor Jahren nach der Besteigung des Ortlers geschrieben habe:

    Ich steh‘ im Tal und schau hinauf,
    mir gehen Herz und Auge auf.
    Gewaltig, majestätisch, schön
    seh‘ ich ihn leuchtend vor mir steh’n.

    Die Sonne schickt ihr erstes Licht
    durch Morgennebel, der noch dicht,
    hinauf auf seine hohen Spitzen,
    die schneebedeckt weit sichtbar blitzen.

    Eine unsichtbare Hand
    greift nach mir, zerrt am Gewand.
    Magisch zieht sie mich hinauf
    zu des Berges Gipfel rauf.

    Hab‘ ich geschafft das höchste Ziel,
    beschleicht mich stets ein Glücksgefühl.
    Die Welt liegt unter meinen Füßen,
    ich schau hinab und tu sie grüßen.

    Nun bin ich 69 und an dem Gefühl hat sich nichts geändert.

    Viele Grüße Detlef

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