Entscheidungsfallen, Teil 1

Es ist eines der Tabu-Themen bei uns, die wir entweder aus Spaß an der Freude oder auch beruflich auf alle möglichen Arten gegen die Schwerkraft ankämpfen: Beim Klettern an großen alpinen Wänden oder an gefrorenen Wasserfällen, an gewaltigen Eisriesen im Himalaya oder beim Hochtourengehen in den Alpen.

Es gibt sicher zigtausende von Veröffentlichungen über Klettertechnik, Absicherung, Ausrüstung. Es gibt unzählige Foren, Videos und Podcasts zu diesen Themen. Es wird endlos diskutiert über Standplatzbau, Sicherungsgeräte, Schlingen, Lawinenkunde usw. Aber über uns selbst, die wir die lebenswichtigen Entscheidungen über unser Wohl und Wehe treffen und auch über dasjenige derer, die sich uns anvertraut haben, lesen und hören wir nur wenig. In anderen Hochrisikobereichen wie in der Schwerindustrie, auf See oder bei der Polizei ist man da schon viel weiter. Dabei könnte man auf diesem Feld in unserem Metier enorm viel bewirken. 

Seit 23 Jahren führe ich Gruppen in der Khumbu-Region des Himalayas aber auch in Alaska und Pakistan. Dabei immer die Interessen der Gäste und die Bedürfnisse unserer Lastenträger mit den Notwendigkeiten, welche uns die äußeren Verhältnisse vorgeben, so in Übereinstimmung zu bringen, das alle, mich eingeschlossen, zufrieden bleiben, ist die hohe Kunst des Führenden.

Denn eine Menge Unfälle geschehen nicht, weil es so gefährlich in den Bergen ist oder weil man zur falschen Zeit am falschen Ort war oder weil man aus grober, aber allzu menschlicher Unachtsamkeit einen fatalen Fehler gemacht hat. Unfälle geschehen leider allzu oft, weil man Dinge tat, von denen man sehr genau wusste, dass sie auch schief gehen könnten und sie trotzdem nicht gelassen hat. Nur wird das kaum jemand zugeben.

Mit anderen Worten: Erfahrene Leute sind zwar fast immer durch logische Analyse in der Lage, die richtige Entscheidung zu finden aber häufig lassen wir uns unbewusst, sehr oft aber auch ganz bewusst davon abbringen, diese richtige Entscheidung dann auch in korrektes Handeln umzusetzen. Würden wir immer genau so agieren, wie es die schlüssig analysierte Entscheidungsfindung vorgibt, es gäbe viel weniger Unfälle. Aber warum zum Teufel tun wir das dann nicht? Was hält uns davon ab? Warum treffen wir immer wieder Entschlüsse, die eigentlich nicht mit dem übereinstimmen, was wir zuvor durch emotionsloses, professionelles Abwägen festgestellt haben?

Ich kann die Entscheidungsnot, in der Christoph und ich damals 2013 am Baruntse waren, noch regelrecht spüren. Wir mussten in die fast senkrechte Westwand ausweichen, weil der Südgrat dermaßen zerfleddert war, dass wir ihn weder vernünftig absichern oder gar seilfrei begehen konnten. Doch war das Risiko dieser Querung tatsächlich noch kalkulierbar? Wir hatten zwar gleich zwei Fixseile an dieser Stelle verlegt. Aber waren die Fixpunkte in dem Firn auch wirklich zuverlässig? Erst im Jahr zuvor war ich nach wochenlangem Kampf am Hidden Peak in Pakistan gescheitert. Ich konnte doch nicht zum zweiten Mal hintereinander ohne Gipfelerfolg nach Hause kommen!

Über unser Fehlverhalten zu sprechen, fällt uns schwer. Aber natürlich ist es äußerst aufschluss- und vor allem hilfreich, darüber nachzudenken, ob, in welcher Situation und warum man sich selbst ganz offensichtlich gegen die Vernunft entschieden und sehenden Auges den Kontrollverlust riskiert hat.

Ich bin nun seit 33 Jahren in den Bergen unterwegs, seit über 20 Jahren fast ausschließlich. Ich habe mehr als 30 Expeditionen organisiert und geleitet und ebensoviele Trekkingtouren und Gipfelbesteigungen mit Gästen in Nepal veranstaltet. Ich stand dabei fast 50 Mal mit Leuten auf Gipfeln über 6000 Metern. Die vielen privaten Touren in den Alpen gar nicht gerechnet. Ich habe also schon eine Menge diesbezüglich erlebt. Nicht nur bei anderen.

Am Monte Sarmiento auf Feuerland umzukehren, nachdem Falk und ich bei der Erstbegehung der mehr als 600 m hohen, nahezu senkrechten Südwestwand fast den Gipfel erreicht hatten, war meine schmerzlichste Entscheidung in den gesamten drei Jahrzehnten, die ich nun schon in die Berge gehe. Wir wären vermutlich erst die zweite Seilschaft auf dem Gipfel gewesen.

Die Liste der Beispiele hierfür ist schier endlos. Nur eines, dass krasseste, soll stellvertretend für die vielen sein.

Der Aufstieg über die Nordflanke des 8200 m hohen Cho Oyu in Tibet nahm einfach kein Ende. Das letzte Mal ein wenig geschlafen hatte ich im Lager 1 auf 6000 m. Von dort aus stiegen wir zum 800 m höher gelegenen Lager 2 auf. Hier wollten wir vor allem kochen und trinken, um gegen acht Uhr abends aufzubrechen. Unser Plan sah vor, das dritte Hochlager auf 7400 m auszulassen und direkt bis zum Gipfel aufzusteigen. Erst auf dem Rückweg sollte Lager 3 auf 7400 m bezogen werden.

Bei unserem Aufstieg überholten wir oberhalb des Gelben Bandes in etwa 8000 m Höhe drei spanische Bergsteiger, die gemeinsam mit einem Sherpa unterwegs waren. Alle drei Spanier befanden sich in einem sehr bedrohlichen Zustand. Wir konnten Ihnen die große Erschöpfung ansehen. Es war völlig offensichtlich, dass sie auf der Stelle umkehren und sich auf den Weg ins Lager 3 machen mussten. Der Sherpa stürzte auf uns zu und beschwor uns regelrecht, doch bitte seine drei Spanier zur Umkehr zu bewegen. Er würde keinen Schritt weiter mit ihnen aufsteigen. Er war überzeugt, dass sie alle sterben würden, wenn sie nicht umkehrten.

Der 8201 m hohe Cho Oyu, was soviel bedeutet wie „Göttin des Türkis. Hier schauen wir aus dem Ngozumba-Tal von der Gokyo-Alm auf die gewaltige, 3000 m hohe Südostflanke.

Natürlich versuchten wir, die Spanier zur Umkehr zu bewegen, so gut wir das eben in über 8000 m Meereshöhe konnten. Doch die drei waren völlig uneinsichtig. Sie würden nie wieder die Chance haben, den Gipfel eines Achttausenders zu erreichen, meinten sie. Nie wieder würden sie so hoch kommen. Nie wieder würden ihre Frauen sie so lange von Heim und Kindern weglassen. Und niemals würden sie sich eine solche Tour je wieder leisten können. Sie hätten eine Menge Geld und Zeit investiert. So kurz vor dem Ziel werden sie nicht umkehren. Ende der Diskussion.

Der Sherpa wusste, dass der Gipfel am Cho Oyu noch lange nicht erreicht war und machte sich wie ein Schlosshund heulend auf den Rückweg. Was sollte er auch sonst tun? Und wir? Wir hatten alles in unserer Macht stehende versucht, die Spanier zur Vernunft zu bringen, doch sie schleppten sich weiter den Berg hinauf und wir auch. Schon bald hatten wir sie aus den Augen verloren. Nur einen von ihnen sah ich jemals lebend wieder. 

Auf 7100 m zwischen Lager 3 und 2 fanden ihn andere Bergsteiger. Er hatte die Nacht ohne Schutz im Schnee liegend verbracht. In einer ungeheuren Kraftanstrengung trugen ihn abwechselnd mehr als 30 Bergsteiger bis ins Basislager hinunter. Hier nahm sich die Ärztin unserer Gruppe seiner an. Die Hände des Spaniers waren erfroren. Später erfuhren wir, dass dem Computerfachmann sämtliche Finger amputiert werden mussten.

Noch heute lässt mich der Anblick der komplett erfrorenen Finger des Spaniers erschaudern. Dehydriert, unterzuckert und mit der Sauerstoffsättigung eines Schwerkranken, so ist man in der Todeszone an einem Achttausender unterwegs. Zumindest wenn man fairerweise auf Zusatzsauerstoff verzichtet. Da führt fast jede Fehlentscheidung zu einem Kampf auf Leben und Tod!

Das Extrembeispiel mit den fanatischen Spaniern beschäftigt mich seit den Tagen am Cho Oyu immer wieder. Und zwar vor allem deswegen, weil auch ich nur knapp an der Katastrophe vorbei geschrammt bin. Ich kam in schlechtem Trainingszustand zum Cho Oyu, weil ich mir ein halbes Jahr zuvor bei einem Absturz eine schwere Trümmerfraktur des linken Fersenbeines zugezogen hatte.

Auf dem Abstieg vom Gipfel zum Lager 3 legte ich die letzten paar hundert Meter vor dem Camp auf allen Vieren kriechend zurück. Und als ich dort endlich wieder essen und trinken konnte, blieb nichts drin. Ich war so erschöpft, dass ich das ganz Zelt eingesaut habe. Ich schlief 15 Stunden wie ein Toter auf 7400 m Meereshöhe und hätte mich nicht gewundert, wenn ich überhaupt nicht mehr aufgewacht wäre. Ganz offensichtlich war meine Entscheidung, bis zum höchsten Punkt des Cho Oyu zu gehen, auch nicht ganz frei von selbstzerstörerischem Ehrgeiz.

Aber meine Finger sind noch dran, und ich musste auch nicht den Cho Oyu hinunter getragen werden. Dieser Aufstieg auf den sechsthöchsten Berg der Erde war für mich die wichtigste Erfahrung in den vergangenen 30 Jahren. Denn seit dem weiß ich, dass der Berg nicht Dir gehört, selbst wenn Du auf dem Gipfel warst. Solange Du nicht wieder unten bist, gehörst du ihm und zwar mit Haut Haaren!

Ende Teil 1

zu Teil 2

zu Teil 3

 

 

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