Teil 3 – Demut
Vor wenigen Tagen wurde ich auf eine (digitale)Veranstaltung gebeten, um meine Erfahrungen zu den Themen Mut und Demut in Bezug auf Führung und Teambildungsprozesse auf Expeditionen weiterzugeben. Man hatte mich in eine Runde von jungen Führungskräften eingeladen, weil man der Meinung war, ein Bergsteiger könnte etwas zu diesem Thema beitragen. Ich sollte unter anderem berichten, in welchen Situationen ich Demut gelernt hätte und wie ich sie empfinde.
Ursprünglich bezeichnet das Wort Demut eine Haltung aus der christlichen Religion. Es setzt sich zusammen aus den beiden althochdeutschen Wörtern „dienen“ (dionōn) und „Mut“ (muot). Der demütige Mensch erkennt das unendlich viel Größere seines Schöpfers an, dessen Vollkommenheit und Allmacht. Doch mit dieser Sichtweise hat man heutzutage natürlich gewisse Schwierigkeiten.
Für mich bedeutet Demut die Erkenntnis, dass etwas größer ist als man selbst. Und wenn es dabei um Berge geht, dann folgen daraus gleich eine ganze Reihe von Eingeständnissen. Sie sind so viel größer als ich, so viel stärker. Jederzeit können sie mich wie lästiges Ungeziefer aus ihrem Pelz schütteln. Ich bin gänzlich machtlos ihnen gegenüber. Lawinengefahr, Stein- oder Eisschlag, Wetterstürze, die Wirkung von Höhe und Kälte! All das entzieht sich meinem Einfluss.
Wenn ich vor einem dieser Himalayariesen stehe, dann kann ich körperlich spüren, dass ich nur ein winziger Punkt auf der unendlichen Achse der Zeit bin, ein bedeutungsloser Winzling, begrenzt in jeder Beziehung. Diese Bergriesen werden immer noch da sein, wenn die „klugen Tiere“ (Nietzsche), die sich Menschen nennen, schon längst vom Antlitz der Erde verschwunden sind.
Doch diese Erkenntnisse werden den Bergsteigern leider nicht in die Wiege gelegt. Im Gegenteil. Berge werden heutzutage immer häufiger zu Sportgeräten degradiert. Sie werden konsumiert anstatt ihre Geheimnisse zu ergründen und ihre Schönheit zu bewundern. Aber warum sollten gerade Berge eine Ausnahme machen? Sie sind ja auch nur ein Teil der Natur, die wir Menschen immer mit Füßen getreten haben. Weil wir es nicht besser wussten und vor allem, weil so viel davon da war. Inzwischen ist das allerdings ganz anders.
Ich hatte das große Glück, völlig anders sozialisiert worden zu sein in Hinblick auf meine Einstellung zu Bergen. Für mich waren sie vor der Wende ein schier unerreichbarer Sehnsuchtsort. Alpen, Karakorum, Himalaya, so fern und unerreichbar wie der Mond. Stacheldraht, Minenfelder und Schießbefehl trennten uns von ihnen. Selbst zu den Gipfeln des Kaukasus, Pamir oder Tienschan zu gelangen, obwohl beim großen sowjetischen Bruder gelegen, war nur ganz wenigen vergönnt.
Ich gehörte dazu. Noch vor der Wende durfte ich nach Tadschikistan ins Tienschan-Gebirge und in den Pamiro-Alai. Demzufolge war es eines der prägendsten Lebensereignisse für mich, mit Mitte Zwanzig das erste Mal vor einem Fünftausender zu stehen. Ich war überwältigt und fühlte mich einerseits über alle Maßen privilegiert, andererseits überkam mich eine tiefe Demut gegenüber diesen Berggiganten. Und diese beiden Gefühle überkommen mich noch heute, wenn ich vor einem großen Berg stehe. Und das ist ein Glück, bewahrt es mich doch zuverlässig vor Hochmut den Bergen gegenüber.
Diesem einfachen Umstand schreibe ich zu, dass ich den langen Weg seit meinem allerersten Blick auf die Tschimtarga im tadschikischen Alai-Gebirge vor 32 Jahren unbeschadet überstanden habe. Doch privilegiert und demütig zu sein, sind eben nicht die einzigen Gefühle, welche mich in den Bergen regelmäßig überkommen. Denn die Erfahrung, dass ich mich mit ihnen messen und auf ihnen bestehen konnte, versetzt mich auch in eine gänzlich andere Stimmung.
Wenn alle eisigen Biwaknächte in den Hochlagern überstanden sind, wenn ich keine zentnerschweren Lasten mehr schleppen muss, wenn ich trotz der vielen Unwägbarkeiten die richtigen Entscheidungen getroffen habe, wenn ich auch keine Angst mehr vor den hinter jedem neuen Aufschwung lauernden Gefahren zu haben brauche und wenn ich dann tatsächlich auch noch mein Ziel erreichen konnte, dann fühle ich mich wie der König der Welt: Großartig, unverwundbar, zu allem fähig! Ich stand oben und bin heil wieder ins Basislager zurückgekehrt. Ich könnte die ganze Welt umarmen! Aber das sind natürlich nicht die vorherrschenden Emotionen auf einer Expedition, sie sind lediglich der Lohn. Die Demut bzw. das was sie ausmacht, ist das beherrschende Gefühl.
Ich sagte vorhin, dass Demut für mich die Erkenntnis ist, dass etwas größer und stärker ist als ich selbst. Berge sind sozusagen der Prototyp dessen. Und doch treten wir gegen sie an. Hat das nicht eher etwas mit Vermessenheit zu tun als mit Demut? Meiner Ansicht nach nicht! Ganz im Gegenteil. Wenn ich antrete, um dieses „Größere“ zu bezwingen, dann wird mich allein meine Demut vor Selbstüberschätzung und Vermessenheit bewahren: Sie hört auf, lediglich eine Haltung zu sein sondern wird darüber hinaus zu einer Art Handlungsanweisung, und zwar eine, die buchstäblich auf alle Lebenssituationen anwendbar ist.
Was bedeutet das aber nun ganz konkret, wenn ich aus dieser Haltung heraus bei der Annäherung an einen großen Berg konkrete Handlungen abzuleiten habe?
Vor allem anderen muss ich die Größe der Aufgabe vernünftig einschätzen und meine Fähigkeiten in ein realistisches Verhältnis zu dieser Aufgabe setzen. Demut für mich als Bergsteiger heisst also, meiner selbst gestellten Aufgabe auch gewachsen zu sein. In der Ebene mag es angehen, dass wir an unseren Aufgaben wachsen. Ein Berg jedoch stellt unsere Schwächen auf eine harte Probe und bestraft Selbstüberschätzung, wenn wir Pech haben mit dem Tod!
Demut bedeutet weiterhin, dass ich alles dafür tue, mich in jeder Hinsicht exzellent vorzubereiten. Ein kurzer Satz, der aber viel beinhaltet: Jahrelanges Training und oft monatelange Recherche, manchmal waren sogar Erkundungsexpeditionen vor der eigentlichen Besteigung nötig. Das leidige Thema der Geldbeschaffung. Und nicht zuletzt das Finden und Motivieren von geeigneten Mitstreitern, die ebenfalls der selbstgestellten Herausforderung gewachsen sind usw.
Demut verlangt, meine Entscheidungen ständig zu hinterfragen und rigoros zu ändern, wenn mich die Verhältnisse dazu zwingen und eben nicht rechthaberisch auf ihnen zu beharren, nur weil es mir unangenehm ist, vor meinen Teammitgliedern zugeben zu müssen, dass ich eine Situation falsch eingeschätzt habe.
Demut bedeutet weiterhin, geduldig, beharrlich und voller Leidenschaft meinem Ziel auch dann noch zu folgen, wenn sich der Berg plötzlich in einen erbarmungslosen Gegner verwandelt, Rückschläge wegzustecken und beim nächsten Versuch über den letzten Umkehrpunkt hinaus zu gehen.
Und ganz besonders meint Demut, dass ich mich in mein Team einfüge, ohne das ein solches Vorhaben oft gar nicht denkbar wäre. Ich muss ohne Stolz oder falsche Bescheidenheit meinen Beitrag in diesem Team realistisch einschätzen und den der anderen anerkennen. Und vor allem muss ich Vorbild sein für meine Leute! Nichts motiviert mehr, nichts macht mehr Mut als jemand, der sich für die gemeinsame Sache aufopfert.
Und nicht zuletzt heißt Demut, bereit für eine Umkehr zu sein, wenn ich merke, dass ich meinem Ziel, aus welchem Grund auch immer, eben doch nicht gewachsen bin. Diese Erkenntnis ist oft so niederschmetternd, dass manche lieber den Tod in Kauf nahmen, als sie anzuerkennen. Denn das bedeutet ja nicht nur, dass die mühsame monate- oder manchmal sogar jahrelange Vorbereitung umsonst gewesen ist, eine Menge Geld verloren ist und ich womöglich für immer meine Sponsoren vergrault habe.
Umkehren heißt auch, dass ich nicht nur in meinen Augen ein Schwächling und Versager bin. Viele berühmte Beispiele gibt es dafür.
Ich bin oft umgekehrt. So wurden Angst und Demut wohl schon häufiger zu meinen Beschützern und sogar Lebensrettern. Auf sie konnte ich mich immer verlassen. Sie haben mich zumindest bis jetzt zuverlässig vor meinem (Hoch) Mut bewahrt, der besonders während meiner ersten großen Projekte in keinem guten Verhältnis zu meinen Erfahrungen und Fähigkeiten stand. Und deshalb bin ich immer noch da…
Das Thema muss man ja nicht nur auf die Berge reduzieren. Man kann es auch auf den Umgang mit bzw. dem Respekt vor der Natur überhaupt beziehen. Und dieser ist heute oft verlorengegangen.
Aber in den Bergen wird die Winzigkeit des Menschen besonders greifbar, schon auf Grund der Dimensionen. Es gibt ja den Spruch: Es ist leichter, ein guter Bergsteiger zu werden, als ein alter. Ein alter wird man eben nur mit der richtigen Demut, dem Respekt vor den Bergen. Ein wenig Glück gehört natürlich auch dazu.