Die Wand der Wände – Teil 2

Die Gelegenheit war günstig. Soeben war ich mit Claudia auf den höchsten Berg der Alpen gestiegen, davor eine ganze Woche Mehrseillängentouren mit Uwe in Chamonix geklettert. Besser akklimatisiert und warm geklettert ging es nun wirklich nicht mehr. Auch das Wetter schien uns hold zu sein. Also fuhr ich Ende August von Chamonix ins Bergell und traf dort Thomas. Ihn hatte ich im Donautal beim Klettern (wo auch sonst) kennengelernt, und wir beide stellten schnell fest, dass wir, obwohl völlig verschieden, am Fels wohl gut zueinander passen könnten. Allerdings war das bis zu diesem Zeitpunkt, als wir uns auf dem Zeltplatz in Vicosoprano trafen, nur eine unbestätigte Vermutung.

Thomas in seinem Lieblingsoutfit. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er so in die „Cassin“ eingestiegen wäre. Doch er ist ein brillanter und unglaublich nervenstarker Kletterer. Ich hätte ihn auch so klettern lassen 🙂

Wir hatten es einfach nicht geschafft, mal eine größere Tour gemeinsam zu unternehmen. Also musste für die Feuertaufe unserer Seilschaft der Piz Badile herhalten. Sowas macht man eigentlich nicht. Allerdings kann ich zu meiner Verteidigung sagen, dass ich in fast 35 Jahren durch ununterbrochenes Sammeln von Erfahrungen mit unzähligen Kletterpartnern ein gutes Gespür entwickelt habe. Ich war mir meiner Sache bei Thomas ziemlich sicher.

Auf dem Weg zu unserem Biwak. Im Hintergrund ragt drohend die dunkle Riesenwand auf. (Foto: Thomas Elgner)

Schon bei der Strategie und Taktik der Besteigung waren wir uns schnell einig. Wir wollten so nah wie möglich unter der Wand biwakieren, die Wand klettern, und dabei möglichst viel am gleitenden Seil steigen, um schnell zu sein.

Bei dieser Methode klettern beide Seilpartner mit dem Seil verbunden gleichzeitig. Der Seilerste legt Zwischensicherungen, der Seilzweite sammelt diese wieder ein. Ein Totalabsturz der Seilschaft wird so verhindert. Wenn der Seilerste sein gesamtes Material aufgebraucht hat, baut er einen Stand und sichert seinen Partner zu sich herauf. Nun klettert der Seilzweite voraus, weil er ja das ganze Material am Gurt hängen hat. Man spart die Übergabe des Materials. Das heißt, beide sollten bereit und fit für den Vorstieg sein. Auf diese Weise geht die Seilschaft einerseits zwar ein höheres Risiko ein, klettert aber auch viel schneller, was in einer solch langen Route auch wieder Sicherheit bringt.

Wir klettern am gleitenden, in voller Länge ausgegebenen Seil in der 3. Seillänge. Fallen ist hier verboten. Würde mir das passieren, ich risse Thomas aus seinem Stand, und wir beide hingen zappelnd irgendwo in der Wand. Und Thomas ging sehr sparsam mit seinen Zwischensicherungen um. Aber das war natürlich auch gut so, denn die Kletterrei ist hier einfach. Also alles keine Zauberei.

Über die Nordkante wollten wir wieder abseilen. Es hätte auch noch die Möglichkeit gegeben, über die Südseite auf dem Normalweg abzusteigen und über den Trubinasca Pass zum Biwak zurückzukehren. Wenn wir uns für letzteres entschieden hätten, wäre es für mich mit meinen vielen Schrauben im Fuß notwendig geworden, meine schweren Bergschuhe und die Stöcke durch die Wand zu schleppen. Das wollte ich nicht. Also entschieden wir uns für das Abseilen. Und ich greife schon mal vor: Das war ein Fehler!

Gesagt, getan. Vom Parkplatz in Bondo sind wir über den alten Weg zur Sasc Furä-Hütte aufgestiegen. Das geht jetzt wieder ganz prima. Über den Fluss im Bondasca-Tal gibt es neuerdings sogar eine kleine, provisorische Brücke. In der wunderschön gelegenen Hütte haben wir ausgiebig gerastet und Erkundigungen eingezogen, wer am nächsten Tag noch mit uns in der Wand sein würde. Vier weitere Seilschaften hatten sich angekündigt, bzw. drei. Ein Solokletterer wollte ebenfalls in die Wand, und ich freute mich schon, so einen kühnen Helden mal persönlich kennenzulernen. Man hört ja sowas immer nur, doch getroffen habe ich einen solchen Crack noch nie.

Unser kleines Basislager zwischen Himmel und Erde an einem magischen Abend.

Wie schlugen unser Minizelt direkt am Einstieg zum Zustieg zum Einstieg auf. Machten es uns gemütlich und schliefen bald ein. Ich habe gut geschlafen und war in Sorge, dass die anderen womöglich schon an uns vorbei zum Einstieg unterwegs sein könnten. Aber es war weit und breit niemand zu sehen. Ruckzuck waren wir abmarschbereit und stiegen hinauf zu der kleinen Scharte, von welcher aus man hinunterklettern muss, um auf das Band zu gelangen, welches zum Einstieg in die „Cassin“ führt.

Wenn man rasch unterwegs ist und das Seil im Rucksack lässt, braucht man etwa eine Stunde von dem Punkt, wo wir biwakiert haben bis hinauf zur Scharte, von dort hinunter zum Band und anschließend auf diesem Band zum Einstieg unserer Route. Wir sind diesen Zustieg zum Einstieg seilfrei gegangen, was natürlich kein Problem ist. Aber es war stockfinster, der Rucksack schwer. Und ein paar Schneebatzen lagen trotz des warmen Sommers noch auf dem Band herum. Mit anderen Worten: Achtsamkeit ist ratsam.

Direkt hinter unserem Biwak der erste Abschnitt des Zustieges zum Einstieg. Der Weg hoch zur Scharte sieht einfacher aus, als er ist. Und Thomas zeigt, was er hat 🙂

Als wir die Scharte erreicht hatten, große Erleichterung. Noch niemand machte sich in der Route zu schaffen. Wir waren also die ersten. Das ist immer gut. Auch beim Blick zurück weit und breit keine Stirnlampe zu sehen. Was war los? Hatten die alle verschlafen? Und wo war der superschnelle Alleingänger, der uns groß angekündigt worden war? Na wahrscheinlich schlief der wirklich noch. Vermutlich würde der uns gegen Mittag in der Wand überholen, ausgeschlafen und satt.

Den Abstieg auf das Band, das Band selbst und auch die kleine Steilstufe direkt vor dem Einstieg in die Route ließen wir schnell hinter uns. Dann standen wir vor dem Originaleinstieg der Route. Die allermeisten klettern heute in der ersten Seillänge eine deutlich leichtere Verschneidungsvariante von Gaston Rebuffat etwas weiter rechts.

Nachdem wir von der Scharte abgeklettert waren (Abseilen ist auch möglich), gelangten wir auf das Band. Wenn keine Schneebarrieren mehr da sind, dann ist das mehr oder weniger Gehgelände. Wenn nicht, dann dauert es länger und man benötigt womöglich Steigeisen und Pickel. Meist ist das am Beginn der Saison der Fall. Die kleine Steilstufe ist mit dem Schwierigkeitsgrat 3b (französische Skala) angegeben. Das haut auch hin. Die linke der drei Verschneidungen ist der heute gebräuchliche Einstieg. Wir aber kletterten den Originaleinstieg noch weiter links.

Die Vorstellung, hier wie Cassin 1937 vor dieser gewaltigen Wand zu stehen, die noch nie jemand zuvor geklettert ist und von der keiner wusste, ob sie mit der damaligen Ausrüstung überhaupt machbar sein würde, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Was waren das damals für unglaublich mutige Kerle.

Und es ging auch gleich gut los! Doch die erste Seillänge ist meistens unangenehm, egal wo und wann ich los klettere. Wir waren zwar schon ein wenig warm geklettert auf dem Zustieg, trotzdem fielen mir die ersten Züge dermaßen schwer, dass meine Zuversicht schon einige Kratzer abbekam. Bloß gut, dass Thomas das Los des ersten Vorstieges gezogen hatte. Im Nachhinein waren das für mich, obwohl nur mit 5c eingestuft, einige der anspruchsvollsten Züge der ganzen Route. Vielleicht war ich einfach noch nicht richtig wach. Keine Ahnung.

Thomas im Vorstieg auf den ersten Metern der 1200 m langen „Via Cassin“.

Anschließend geht es drei Seillängen schräg aufwärts an Rippen und Spalten weiter. Das dritte Foto dieses Beitrages weiter oben zeigt jenen Abschnitt. Herrliche Kletterei an bombenfestem Gestein. Anschließend wartet eine Querung um eine Kante. Eigentlich kein Problem. Aber bei uns waren gerade die Schlüsselzüge in dieser 4. Seillänge nass. Außerdem ist die mit 5c+ angegebene Seillänge schlecht abzusichern. Ich tat mich zum zweiten Mal nach dem Einstieg schwer. Aber schon nach zwei Zügen war alles wieder im grünen Bereich.

Weiter geht es in Verschneidungen meist zwischen dem unteren und oberen 5. französischen Grad bis zum Mittagsband.

Mittagsrast und obligatorisches Studium der Topographie unserer Route auf dem sogenannten Mittagsband. Es ist immer eine gute Idee, ein Topo mit dabei zu haben. Und zwar am besten eines aus Papier. Schon ganz und gar wenn es kalt ist. Die hochgezüchteten Telefone der heutigen Zeit geben schnell mal ihren Geist auf, weil der Akku leer ist.

Gut ausgeruht stand nun die klettertechnische Schlüsselstelle der „Cassin“ bevor, denn rein vom Schwierigkeitsgrad ist diese 10. Seillänge die anspruchsvollste der Route (französisch 6a, UIAA 6+). Hier allerdings kann man sich gut absichern und schon wird die ganze Sache entspannter. Ich empfand diese Seillänge als eine der schönsten der gesamten Route. Und auch danach bleibt es traumhafte Kletterei in Verschneidungen im oberen 5. Grad.

Thomas in den phantastischen Verschneidungen des oberen Wanddrittels. So ein bisschen hatten wir hier schon den Überblick verloren, in welcher Seillänge wir uns gerade befanden. Denn auch hier oben sind wir wieder streckenweise am gleitenden Seil geklettert und da kann es schon mal durcheinander gehen.

Am Ende der 13. Seillänge klettert man am 2. Cassin Biwak vorbei und erreicht die Ausstiegskamine. Diese drei Kamin-Seillängen sollte man auf keinen Fall unterschätzen. Ich empfand sie als sehr anstrengend, zumal man hier ja schon 14 Seillängen in den Knochen hat. Und Spreizen ist vor allem in den unteren zwei der drei Kaminseillängen die beste Methode, um rasch und mit möglichst wenig Aufwand vorwärts zu kommen. Reinkriechen kostet Kraft, Zeit und strapaziert Material und Nerven.

Oben ist man auch am Ende dieser drei speziellen Seillängen noch lange nicht. Weitere drei bis vier Seillängen im oberen 4. Grad folgen, bis endlich der Nordgrat und somit das Ende der „Via Cassin“ erreicht ist. Und wenn man auf den Gipfel des Piz Badile will, sind noch einmal vier, allerdings einfache Seillängen zu klettern. Die allerdings haben wir uns gespart. Die Zeit war fortgeschritten, und wir hatten uns entschieden, über den Nordgrat abzuseilen.

Thomas im Mittelteil der drei Kaminseillängen. Gut, wenn man hier eine sächsische Klettersozialisation vorzuweisen hat.

Obwohl wir rasch geklettert sind, auch durch häufiges Gehen am gleitenden Seil, waren wir doch mindestens zwei Stunden langsamer, als wir uns das gedacht hatten. Der Grund dafür waren drei Ausflüge ins Nirwana. Wir haben uns verstiegen. Ich gebe es zu, alle drei „Verhauer“ wären sicher vermeidbar gewesen, hätten wir genauer hingeschaut. Aber sogenannte Verhauerhaken, also geschlagene Haken, die abseits vom rechten Weg in die Irre weisen, locken verführerisch wie die Sirenen ins Verderben. 

Steigt man in die „Cassin“ ein und hat keinen versierten Bergführer vor sich, welcher die Route wie seine Westentasche kennt, so sollte man an den unübersichtlichen Stellen genau hinschauen, wo die Route verläuft bzw. nur verlaufen kann und sich die Position der Haken genau anschauen. Die meiste Zeit ist der Weg durch die Nordostwand am Piz Badile allerdings doch recht eindeutig.

Zu unserer Abseilaktion über die Nordkante würde ich ja am liebsten ganz schweigen. Es war ein Fehler, diese Art des Abstieges zu wählen, vor allem weil man uns sogar vorgewarnt hatte.

Sogar ein Wandbuch gibt es in der „Via Cassin“. Wozu so ein altes Armeekochgeschirr alles gut ist.

Die Zeit war fortgeschritten als wir auf dem Nordgrat eintrafen, trotzdem konnten wir noch mit mindestens drei bis vier Stunden Licht rechnen. Ich war zuversichtlich, dass wir zumindest bis an den Fuß der Nordkante, also in die Scharte, die wir schon kannten, im Hellen hinunter kommen würden. Doch wir kannten die Abseilpiste nicht, welche die Nordkante hinunter führt, wussten nicht wo die Abseilstände waren. Aber auch das bekommt man zumindest bei Licht irgendwie hin.

Was man aber nicht beeinflussen kann, weil hier Glück oder eben Pech eine Rolle spielt, ist das Seilabziehen. Man seilt ja am Doppelstrang ab, damit man das Seil, welches durch eine Abseilöse am Stand gezogen wurde, abziehen kann. Ob aber dieses Seil problemlos zu einem herunterfällt oder sich irgendwo verhakt, hat man als Kletterer nicht immer selbst in der Hand. Und genau das passierte uns gleich mehrfach. In einem solchen Fall ist guter Rat teuer.

Meist bleibt einem gar nichts anderes übrig, als ungesichert hinauf zu klettern und das störrische Seil zu befreien. Das kostet viel Zeit und Nerven. Und gefährlich ist es auch noch. Und schwupp war es dunkel. Doch im Dunkeln auf einer unbekannten Route Abseilstände zu finden, hat besonders an einem Grat schon etwas von Russischem Roulett. Wehe der Stand ist rechts oder links vom Grat und man seilt die falsche Seite hinunter. 

Thomas sitzt auf der Nordkante. Hier endet die Route des Riccardo Cassin nach 22 Seillängen und 1200 Klettermetern. bzw. geht in die Nordkante über, welche schon 1923 erstbegangen wurde.

Wir sind heil wieder runtergekommen, sonst gäbe es diese Zeilen hier vermutlich nicht. Allerdings war es schon zwei Uhr morgens, als wir das Biwak erreichten. Und die Anzahl meiner Schlingen war stark dezimiert, aufgegangen in den einen oder anderen Stand Marke Eigenbau. Die fest installierten Stände im Dunkeln zu finden, war nicht selten ein Ding der Unmöglichkeit.

Aber ein Gutes hat dieses einprägsame Abseil-Erlebnis. Nun habe ich eine glasklare Meinung, wenn mich jemand fragt, was ich ihm raten würde: Den „kurzen“ Weg über die Nordkante abzuseilen, oder über die Südseite des Piz Badile abzusteigen und damit den weiten Weg zurück über den Trubinasca-Pass oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf sich zu nehmen.

Außerdem würde ich ihm ungefragt noch eine paar weitere Ratschläge mit auf den Weg geben, denn selbst heute noch, 85 Jahre nach der Erstbegehung, ist die grandiose Linie, die Riccardo Cassin durch diese Wand gefunden hat, eine sehr ernste Tour. Sie fordert das gesamte Repertoire an Sicherungstechnik, Kletterkönnen und Orientierungsvermögen sowie eine gute Kondition. Deshalb ist es klug, sich das Topo, also die Routenbeschreibung gut einzuprägen, geduldig auf stabiles Wetter zu warten und sich einen Tag rauszusuchen, wo möglichst wenig in der Wand los ist.

Es ist schon ein angenehmes Gefühl, diese Riesenwand anzuschauen und sich sagen zu können: Mensch Junge, da bist Du hochgeklettert. Kaum zu glauben, dass das tatsächlich geht.

Übrigens hatten wir dieses Glück, die Wand ganz für uns allein zu haben. Weder der Alleingänger noch irgendein anderer ist an diesem Tag, entgegen ihrer vollmundigen Ankündigungen, in die Wand eingestiegen. Uns sollte es recht sein. Womöglich haben sie tatsächlich verschlafen. Oder kalte Füße bekommen, weil die Tour doch ernsthafter ist, als gedacht. Oder weil ihnen das Wetter nicht stabil genug erschien. Oft ist Verzicht so viel vernünftiger, als den vielen Tragödien in dieser Wand eine weitere hinzuzufügen.

Doch wenn man sich dieser Route gewachsen fühlt, die Verhältnisse passen und auch der Kopf mitspielt an dem entscheidenden Tag, dann wartet mit der „Via Cassin“ am Piz Badile ein großartiges Kletterabenteuer, welches man garantiert nie wieder vergisst.

zum Teil 1

 

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Eine Antwort

  1. Erhard sagt:

    Endlich der Bericht über die Wand der Wände! Ich bin tief beeindruckt! Wieder ein ehrlicher lehrreicher beeindruckender Text. Eines meiner Lebensziele wird unerfüllt bleiben. Und ein wenig bin ich froh darüber, habe die Wand in jeder Hinsicht unterschätzt. Ich gratuliere Dir, lieber Olaf, zu dieser Tour, zu Deinem Lebensstil! Bleib gesund!

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