Das erste Mal

Ich habe tatsächlich eine ganze Weile gebraucht, bevor ich das verstanden hatte. Was Angst ist und was sie mit einem macht. Dass man sie nicht abschalten kann, wie ein Radio. Man kann sie auch nicht unterdrücken oder sie ignorieren. Sie ist einfach da. Man muss mit ihr leben und sie zulassen.

Ganz selten habe ich mich so schwer getan, meine Angst unter Kontrolle zu bringen, wie im Val di Mello (linkes Bild). Und die größten Schlachten gegen meine Angst führe ich regelmäßig im Sandstein der Sächsischen Schweiz. Hier sollte man unbedingt wirksame Strategien zur Hand haben, mit ihr fertig zu werden.

Bei einem selber klappt das gut. Ich bin gewohnt, mit ihr umzugehen. Ich bin darauf vorbereitet, wenn sie kommt. Manchmal überfällt sie mich, wie ein wildes Tier. Aber selbst dann weiss ich um die Mechanismen, wie ich sie unter Kontrolle bekomme. Mir ist bewusst, dass ich sie niederringen muss, denn in den Situationen, wo sie mich in ihren Würgegriff zu nehmen droht, kann ich sie buchstäblich nie gebrauchen. Sie macht dann höchstens alles noch schlimmer. Trotzdem habe ich nichts gegen sie. Ganz im Gegenteil! Sie ist sogar mein Freund, meine Überlebensversicherung. Ich verdanke ihr schon viele Male meine Gesundheit und mein Leben, wenn sie vehement gegen mein Tun angebrandet ist und ich sie nicht unter meine Kontrolle bringen konnte.

Tiefblicke, wie hier am Chinesischen Turm im sächsischen Bielatal, wo man auf seine Schlingen schaut, Ringe oder ähnliches aber vergeblich sucht, dürfen einen nicht mehr anfechten. Hier ist ein gesundes Selbstbewusstsein, was seine Fähigkeiten besonders hinsichtlich der Absicherung anbelangt, schon sehr von Vorteil.

Ich bin geübt im Umgang mit ihr.

Ganz anders ist das bei meinen Klettergästen, die womöglich zum ersten Mal den Schritt in die Senkrechte wagen. Wenn sie vom Boden abheben und ihnen die Ernsthaftigkeit ihrer Situation bewusst wird, wenn sie merken, wie vollkommen sie sich gerade in die Hände eines völlig fremden Menschen begeben haben, wenn die Schwerkraft an ihnen saugt und der Blick nach unten schwindelig macht, wenn sie sich vorstellen, was passieren würde, wenn sie fallen, dann kommt die Angst, und sie können nichts dagegen tun.

Uta im ersten Kletterweg ihres Lebens. Das ist mutig, das kostet Überwindung, es macht aber auch wahnsinnigen Spaß, vor allem, wenn man heil wieder unten ist und staunt, was man da gerade tatsächlich geschafft hat.

Genau dass ist die Situation, mit der ich ständig konfrontiert bin, wenn sich meine Klettergäste mir anvertrauen. Eine jedes Mal aufs Neue faszinierende Situation. Wie schaffe ich es, den Leuten, die mit mir an beängstigend hohen Felsen das Einmaleins des Kletterns lernen möchten, ihre Angst zu nehmen?

Eigentlich, so könnte man meinen, sollte das recht einfach sein. Denn es ist ja nicht ganz falsch, wenn ich auf die Tatsache hinweise, dass das Klettern am scharfen Ende des Seils, also der Vorstieg, schon gewisse Risiken birgt. Dass aber das Klettern am anderen Ende, wenn das Seil von oben kommt und man dranhängt, viel ungefährlicher ist, als die Autofahrt zum Kletterfelsen. Leider nutzen solche Ansprachen nur wenig oder gar nichts. Genau das zu begreifen, fiel mir anfangs ziemlich schwer. Warum sollte man bei etwas völlig ungefährlichem Angst haben?

Marissa klettert das erste Mal eine Mehrseillängentour. Als sie nach 60 Klettermetern oben angekommen ist, war nicht nur sie stolz wie ein Spanier, sondern ich auch!

Und genau das ist der Fehler. Denn sie ist da. Unsere Urangst vor der Höhe, vor dem Sturz in die Tiefe ist da. Und ich brauche gar nicht erst zu versuchen, sie weg reden zu wollen.

Noch bevor wir überhaupt Hand an den Felsen legen, muss ich meinen Gästen signalisieren, dass ich um ihre Angst weiß und sie respektiere. Dass sie keineswegs nur lästig ist, sondern uns beschützt. Und dass das Klettern ziemlich langweilig wäre, wenn es diese Angst nicht gäbe.

Es geht beim Klettern darum, sich das Wissen, die Fähigkeiten und das Selbstbewusstsein anzueignen, mit dieser Angst umzugehen, sie zu kontrollieren und sie letztendlich zu besiegen.

Doch wie macht man das? Das Zauberwort heißt Vertrauen. Und dieses Vertrauen hat so eine Art Wesenseinheit, wie die Dreifaltigkeit in der christlichen Theologie. Denn das Vertrauen beim Klettern besteht auch aus drei verschiedenen Kategorien, welche untrennbar zusammengehören. Fehlt eins, ist entspanntes Klettern unmöglich.

Es ist nicht wirklich viel, was man können muss, um los zu klettern. Ein paar Dinge aber, wie zum Beispiel das Einbinden des Seils an der Klettergurt, sollte man im Schlaf beherrschen.

Es ist einmal das Vertrauen in sich selbst, zum zweiten das Vertrauen in seinen Sicherungsmann und zu guter Letzt das Vertrauen in das Material. Dabei ist das Vertrauen in sich selbst, die am wenigsten beeinflussbare Variable in unserer Gleichung. Die beiden anderen Vertrauensarten sollten schon hergestellt werden, bevor mein Klettergast abhebt. Und dabei ist Erklären, Zeigen und besonders Vorführen das A und O.

Für unsereins ist das alles selbstverständlich, und deshalb kommt es uns manchmal überflüssig, mühselig oder sogar dumm vor, genau erklären bzw. zeigen zu müssen, wie ein Sicherungsgerät funktioniert. Warum man sich in das Seil einbinden muss. Welche Rolle Reibung spielt. Wie viel ein Seil, ein Gurt oder ein Umlenker aushält. Warum ein Seil dynamisch ist und was das bedeutet, wenn man sich reinsetzt. Welch große Rolle die Redundanz beim Klettern spielt und noch vieles andere mehr.

Jaqueline genießt das einmalige Feeling von Sonne, Sand und Meer beim Klettern auf Sardinien. Besser geht es nicht.

Und ich darf das nicht irgendwie erklären. Ich muss es so tun, dass mein Gegenüber das auch verstehen und verinnerlichen kann. Das wird manchmal richtig anstrengend sein. Aber es lohnt sich. Und dabei ist es nicht nötig, dass ich selbst ein begnadeter Kletterer sein muss, der sich im 9. Grad warm klettert. Oder das ich ein brillanter Techniker bin, mit Fachbegriffen nur so um mich werfe und 30 verschiedene Knoten mit geschlossenen Augen knüpfen kann. Aber ich muss immer wieder vormachen, zeigen, verbessern, ermuntern und vor allem loben.

Das Material versagt buchstäblich nie. Heutzutage ist die Qualität unserer Ausrüstung außerordentlich hoch und sie funktioniert extrem zuverlässig. Aber auch solche Aussagen reichen oft nicht aus, um nachhaltiges Vertrauen bei meinen Klienten hervorzurufen. Behutsames Erfahren hilft da schon eher!

Auch sollte man nicht davon ausgehen, dass es für den Kletteraspiranten völlig selbstverständlich ist, dass ich sicherungstechnisch mit allen Wassern gewaschen bin. Er weiß ja überhaupt nicht, was man alles können oder nicht können muss, um zuverlässig und in allen denkbaren Situationen zu sichern. Auch hier ist Vertrauensarbeit nötig. Und zwar in Bodennähe.

Am besten sollte ich meinen Schüler auch selbst sichern lassen, damit er sieht, dass es keine Zauberei ist. Und gleichzeitig ist es gut, wenn ich nicht nur Vertrauen von meinem Schüler in mich und das Material verlange sondern auch ihm etwas zutraue. Dann wird er es leichter haben, sich selbst ebenfalls zu vertrauen.

Heinrich kämpft wie ein Löwe mit dem weichen Sandstein über der Elbe. Und Marissa legt ein Selbstvertrauen an den Tag, dass ich regelrecht neidisch geworden bin. Klettern ist ihr Ding!

Und damit sind wir beim Selbstvertrauen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es nichts gibt, was mehr Selbstvertrauen erzeugt, als seine Angst niedergerungen zu haben, während man eine senkrechte Wand hochgeklettert ist. Wie oft habe ich nach der ersten echten Route im Fels in strahlende Gesichter geschaut und den Satz gehört: „Nie hätte ich gedacht, dass ich da hochkomme“.

Damit genau das auch klappt, ist es wichtig, dass ich meinen Klettergast nicht überfordere. Die gesamte Liebesmüh kann völlig für die Katz sein, wenn der Kletteraspirant auf seinen ersten Klettermetern das Gefühl bekommt, den ausgewählten Weg niemals hochzukommen und deshalb von einem auf den anderen Augenblick die Lust verliert. Und dann womöglich gleich für immer!

Der schönste Lohn nach einem langen Klettertag ist, in fröhliche und vor allem entspannte Gesichter zu schauen.

Doch wenn ich das alles in der richtigen Dosierung hinbekommen habe, dann fängt die ganze Kletterei sehr schnell an, riesengroßen Spaß zu machen. Und zwar nicht nur meinen Klettergästen. Es bringt auch mir große Freude, die Verblüffung zu beobachten, wenn ein schier unlösbares Bewegungsrätsel, welches der Fels an den Kletteraspiranten gestellt hat, sich plötzlich in Luft auflöst. Ganz einfach weil ich ihn bitte, seinen Körperschwerpunkt ein klein wenig zu verlagern, ein bisschen Dynamik in den Zug zu bringen oder einen Seitgriff abzuziehen, welcher gar nicht als Griff wahrgenommen wurde.

Denn so funktioniert Klettern: Wir erweitern unser Portfolio an Bewegungsmöglichkeiten, probieren Griffvarianten aus, spielen mit unserem Körperschwerpunkt, lernen, den Füßen auf kleinsten Tritten zu vertrauen. Wir spüren unseren Körper in immer neuen Facetten, die wir so noch nie wahrgenommen haben. Wir beginnen, immer kreativer mit unserem Körper umzugehen. Auf diese Weise gelingt es uns, ständig neue und zunehmend kompliziertere Bewegungsrätsel zu lösen. Das kann wahnsinnig aufregend und erfüllend sein. 

Gleichzeitig ändert sich unser Blickwinkel, weil wir buchstäblich über den Dingen stehen. Unser Horizont weitet sich, und im besten Falle ändert sich die Perspektive beim Blick auf uns selbst und unsere alltäglichen Herausforderungen. Sie beginnen, sich zu verkleinern, wie der Sicherungsmann, der plötzlich auf Mausgröße zusammengeschrumpft ist. Ich weiß nichts anderes, wo so viel mit uns passiert, was uns auch in der Ebene weiterhelfen kann.

Das einzige, was wir dafür tun müssen ist: LOS-Klettern

Das könnte dich auch interessieren …

4 Antworten

  1. So schön hat das noch keiner aufgeschrieben, das mit der Angst, lieber Olaf!
    Ich lese Deine News alle, gewinnbringend und sehr gerne! Bitte weiter so, bleib gesund!
    Erhard

  2. sonja sagt:

    Hallo Olaf, tolle posts von dir, lese diese sehr gerne. Deine posts sind immer unter einem menschlichen Blickwinkel geschrieben, vielen Dank dafür. Mich persönlich beschäftigt sehr das Thema Angst- nicht abschalten können wie ein Radio- Gibt es zu diesem speziellen Thema, weitere Ansätze damit besser umzugehen? Viele Grüße aus dem Ruhrgebiet sonja

    • Olaf Rieck sagt:

      Hallo Sonja,
      es gibt massenhaft Literatur zu diesem Thema. Aber der beste Ansatz ist, und dies ist meine ganz persönliche Meinung, eine behutsame „Konfrontationstherpie“. Wir Menschen sind Erfahrungstiere. Wir verinnerlichen mit der Zeit, dass etwas ungefährlich ist. Bei dem einen dauert das quälerisch lang, bei dem anderen geht es rascher. Das kann man nicht ändern. Wichtig ist, dass man sich seiner Angst stellt und sie annimmt als das was sie ist: Ein Freund, weil sie uns beschützt. Herzliche Grüße aus Sachsen

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen