Vergessen in der Arktis, Teil 1
Ich bin immer wieder verwundert, wenn Leute mich auffordern, endlich mal ein Buch über das zu schreiben, was ich alles erlebt habe. Das geschieht sogar recht oft. Aber ich bin sicher, dass es verlorene Liebesmüh wäre, wenn ich das tatsächlich täte. Denn ich bin sowohl davon überzeugt, weder das dazu nötige Talent zu besitzen noch überhaupt etwas Spannendes oder Substantielles beitragen zu können zu der ungeheuren Menge des schon Vorhandenen.
Und tatsächlich mangelt es bei mir auch an wirklich außergewöhnlichen Geschichten, die es wert wären, erzählt zu werden. Mindestens eine Ausnahme gibt es aber doch. Allerdings ist diese Geschichte gar nicht mir passiert. Ich habe lediglich dazu beigetragen, dass sie nicht gänzlich in Vergessenheit geraten ist.
Alles begann mit einem Anruf. Im Herbst 2003 meldete sich ein freundlicher Herr bei mir. Er stellte sich als Siegfried Czapka vor und bat um möglichst ausführliche Informationen zu unserer damals geplanten kombinierten Kajak-Trekking-Expedition zum Nordkap der Hauptinsel des Svalbard-Archipels, Spitzbergen.
Diese Reise sollte mein dritter Versuch werden, fair, also ohne vorher angelegte Nahrungsmitteldepots, den schon oberhalb des 80. Breitengrades gelegenen nördlichsten Punkt dieser Insel zu erreichen.
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Das Svalbard-Archipel steht unter norwegischer Verwaltung ist aber kein Teil Norwegens. Das ist im Spitzbergenvertrag geregelt, der 1925 in Kraft trat. Dieser Vertrag sichert Spitzbergen einen auf der Welt einmaligen Sonderstatus zu: Laut diesem Vertrag haben Bürger aller Signatarstaaten freien Zugang und die gleichen Rechte auf wirtschaftliche Nutzung. Außerdem ist Spitzbergen eine demilitarisierte Zone. Kein Land einschließlich Norwegen darf Militär dauerhaft stationieren.
Siegfried Czapka hatte durch einen Artikel in den Dresdner Neuesten Nachrichten über die Planungen dieses aufwendigen Unternehmens erfahren. Und nun fragte er mich am Telefon dazu aus. Mir fiel sofort seine erstaunliche Kenntnis der geographischen Gegebenheiten auf. Außerdem offenbarte sich bei diesem Gespräch ein detailreiches Wissen zu Ausrüstungs- und Verpflegungsfragen, mit denen sich Arktisfahrer zwangsläufig intensiv beschäftigen müssen.
Alles wollte er ganz genau wissen. Fast eine Stunde quetschte er mich aus. Doch irgendwann musste auch ich meine Neugier befriedigen. Warum er das eigentlich alles wissen wollte, fragte ich ihn.
Die Arktis sei seit vielen Jahrzehnten sein Steckenpferd, antwortete er. Er schreibe eine Monographie über sämtliche Expeditionen in die Arktis von der Antike bis zur Gegenwart. Unser Unternehmen gehöre zweifellos auch dazu und deshalb sein Interesse.
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Unsere geplante Route auf der Hauptinsel Spitzbergen. Wir wollten mit unseren Kajaks in Longyearbyen starten und dann über den Isfjorden und den Billefjorden zu einer 35 Kilometer breiten Landbrücke auf dem Dicksonland paddeln. Über diese wollten wir die Boote und unser Gepäck tragen und dann über den Aust- und Wijdefjorden zum nördlichsten Punkt Spitzbergens vordringen. Das ist uns im Sommer 2004 auch gelungen.
Ob es denn einen speziellen Grund für seine Obsession an der Arktis gäbe, war meine nächste Frage an ihn. Ich erinnere mich genau, fast wörtlich, was er antwortete: Vor langer, sehr langer Zeit war er auf einer Expedition, so nannte er es, auf Nordaustlandet. Das ist die zweitgrößte Insel des zu Norwegen gehörenden Svalbard-Archipels. Dort hatte er sogar überwintert. Aber keiner wusste davon, denn er war auf einer streng geheimen Mission.
Und nun war natürlich meine Neugierde erst so richtig angefacht. Streng geheim? Wieso das denn? Und dann sprudelte es regelrecht aus ihm heraus. Er sei als blutjunger Mann Mitglied eines Wettertrupps der deutschen Kriegsmarine gewesen. Die Operation trug den Decknamen „Haudegen“ nach ihrem Chef dem Geografen Dr. Wilhelm Dege. Es war Anfang September 1944, die lange Polarnacht nahte.
Mit einem der beiden Versorgungsschiffe, dem U-Boot U 307 kam Czapka auf die Insel. Der Rijpfjord in der Wordiebucht an der Nordküste von Nordaustlandet war nun auf unbestimmte Zeit der neue Wohnort für die 11 Mann starke Truppe. 1800 Kisten mit Baumaterial für die Wetterstation, Waffen und Munition, meteorologische Geräte und Vorräte, die ein ganzes Jahr reichen sollten, wurden entladen. Die Zeit drängte, denn vor dem ersten Packeis mussten die Schiffe wieder auf Südkurs gehen.
Mit dem letzten Licht vor der Polarnacht erfolgte der Bau von Station und Wohnhütte aus Preßspanplatten – ohne Isolierschichten. Erst als die lange Nacht angebrochen und der Fjord durch das Eis geschlossen war, konnten Wetterdaten gefunkt werden. Dunkelheit und Packeis waren der Schutz vor Angriffen der Alliierten, denn der Funkverkehr verriet natürlich sofort den Standort der Station.
Und dann kam der eigentliche Knaller an dieser Geschichte. Fast beiläufig erzählte er, dass sie auch das Kriegsende auf Nordaustlandet erlebt haben und dort oben mehr oder weniger „vergessen“ wurden. Deshalb sei ihr Wettertrupp die letzte deutsche Einheit des gesamten Zweiten Weltkrieges, welche erst vier Monate nach Kriegsende kapituliert hat. Und zwar in den Morgenstunden des 4. September 1945. Ein norwegisches Robbenfangboot, die „Blaasel“, erschien, als die Deutschen die Hoffnung schon fast aufgegeben und begonnen hatten, sich auf eine zweite Überwinterung einzustellen. Die ersten Treibeisschleier waren auf dem Rijpfjord schon erschienen.
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Der Zustand der Station im Juli 2004. 60 Jahre hat diese Pappschachtel die Unbilden des arktischen Klimas relativ unbeschadet überstanden.
Die 11 Deutschen hatten ein Festmahl für ihre Retter ausgerichtet und mehrere Flaschen Steinhäger trugen zur Entspannung dieser seltsamen und auch brenzligen Situation bei. Der Chef des Wettertrupps, Dr. Dege überreichte seine Pistole dem norwegischen Kapitän des Robbenfängers und sagte, dass er hiermit kapituliere.
Ende Teil 1
Wow, was für eine interessante Geschichte! Bin sehr neugierig, wie es weitergeht!
Auf jeden Fall hast Du Sinn für Dramatik! An einem Tag mit zweistelligen Minusgraden kommst Du mit solch einer Story daher. Die Vorstellung, ganz weit oben im Norden vergessen zu werden und einen weiteren Winter ausharren zu müssen, …
Bin auch gespannt, wie es weitergeht.
Da müsst Ihr noch ein bisschen warten. Vielleicht aber nur bis Freitag oder doch Montag??
So lange kann ich es GERADE noch aushalten (-:
Also, bei Deiner Einleitung musste ich schon ein wenig lachen, lieber Olaf. Wer, wenn nicht Du hat so viele spannende und faszinierende Sachen erlebt, um davon Geschichten erzählen zu können. Dein ganzer Blog ist schon voll davon, geschweigen denn was Du sonst noch alles erlebt und gesehen hast. Muss es denn immer nur das aller Außergewöhnlichste sein, was erzählenswert und damit lesenswert erscheint?
Heutzutage schon, denke ich. Und dann fehlt, wie erwähnt, auch Talent…
Lieber Olaf, du HAST Talent zum Schreiben!
Ja, genau. Da stapelt einer ganz tief.
Lieber Olaf, wenn dir der Name nichts gesagt hat, dann hast du wohl das Buch, was ich dir vor unserer gemeinsamen Spitzbergen-Expedition geschenkt hatte, nicht gründlich gelesen. 😉
Liebe Grüße
Jana
Stimmt, er stapelt tiefer als jede Eisschicht dick ist ;).
Kurze Geschichte von mir, im November 1989 fühlten sich ebenso einige (inzwischen ehemaligen) Arbeitskollegen von mir verlassen und vergessen. Sie arbeiteten und überwinterten im südlichen Polarmeer, auf der klimatechnischen und geodätischen DDR-Forschungsstation „Georg Forster“. Den Mauerfall, die Wende, die Währungsunion, erlebten sie nur per Fax und begleitet von „tröstenden“ Worten ihre westdeutschen Kollegeninnen. Erst Monate später wurde eine Heimreise von O’Higgins via Süd-Afrika ins vereinigte Deutschland von Seiten der Bundesregierung organisiert. Dazu gibt es auch eine interessante Doku im MDR-Fernsehen: „Wende im Eis – Die letzten DDR-Antarktisforscher“.
Liebe Grüsse, Jens
Hallo lieber Jens, diese Doku lief vor gar nicht allzu langer Zeit, und ich habe sie gesehen. War sehr interessant!