Lohn der Angst
Am vergangenen Wochenende waren einige meiner zukünftigen Nepalgäste in der Sächsischen Schweiz zum Kennenlernen. Eigentlich alljährliche Routine, doch ganz unverhofft wurde dieses kleine Event für alle zu einem ganz besonderen Erlebnis. Normalerweise hätten wir das Kennenlernwochenende gar nicht gebraucht, denn wir alle haben uns ja schon in den Alpen getroffen. Trotzdem wollten einige auf dieses Erlebnis nicht verzichten.
In der Regel verbringen wir die beiden Tage in den Affen- und Schrammsteinen. Am Sonnabend werden die Stiegen unsicher gemacht: Wilde Hölle, Zwilling, Häntzschel, Rübezahl und wie sie alle heissen. Es geht den ganzen Tag rauf und runter und am Abend haben wir bestimmt 1000 Höhenmeter und 20 Kilometer in den Knochen. Die Nacht verbringen wir in einer klassischen Boofe also in einer von einem überhängenden Felsen überdachten Übernachtungsstelle.
Doch so richtig interessant wird es am Sonntag, denn da wird geklettert und abgeseilt. Und wenn es das Wetter zulässt, machen wir das an einem der attraktivsten Gipfel des gesamten Gebirges, der Tante: Völlig freistehend, gertenschlank und auch noch umgeben von den gewaltigen Schrammsteinen, aber auch ziemlich steil und deshalb für Anfänger schon recht anspruchsvoll. Doch wer einen Sechstausender im Himalaya als Ziel gewählt hat, den sollte die kleine Tante eigentlich nicht erschrecken können, dachte ich. Aber da kann man sich auch täuschen.
Wenn ich im Nachstieg klettere, das Seil also von oben kommt und das Fallen somit unmöglich sein sollte, dann bin ich doch ziemlich entspannt beim Klettern. Aus der Ruhe bringt mich jetzt nur meine eigene Unfähigkeit. Angst habe ich kaum. Zwar empfinde auch ich es als unangenehm, wenn ich mich nicht mehr halten kann oder ein Zug mir nicht gelingt und ich ins Seil rutsche. Aber diese Angst habe ich im Griff, weil ich ja weiss, dass keine Gefahr droht, zumindest wenn mein Sicherungsmann bei der Sache ist. Doch dieses Vertrauen ist beim Klettern unabdingbar.
Und im Grunde meines Herzens denke ich, dass das natürlich auch meine Gäste so empfinden müssten, weil sie ja ebenso rational die Situation einschätzen können. Das Seil kommt von oben, Fallen ist also ausgeschlossen. Aber so einfach ist das eben keineswegs. Die Tiefe zerrt an einem und die Angst kommt automatisch. Da hilft auch nicht, mit Engelszungen zu reden. Da hilft nur die Erfahrung. Doch um sie machen zu können, muss man sich erst mal überwinden, seine Angst niederkämpfen.
Dazu gehört viel Mut, Selbstüberwindung und Vertrauen. All das habt ihr an diesem Wochenende aufgebracht und darauf könnt ihr stolz sein. Ich denke ja, dass ihr nach diesen Erlebnissen eine ganze Menge mehr über Euch wisst und gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgegangen seid. Mir hat es großen Spaß gemacht und ich habe viel von Euch gelernt. Doch jetzt freue ich mich auf unser gemeinsames Nepalabenteuer.
Ja, die Angst beim klettern im Nachstieg ist eigentlich nie rational und doch ist sie da. Das musste ich auch schon oft bei mir erleben. Gut ist, wenn man diese Erfahrung in einer sicheren Umgebung macht, aus der ein schneller Rückzug problemlos möglich ist und nicht erst in 6000m Höhe.
Für mich war das Wochenende ganz besonders vielseitig: aufregend, anstrengend, lustig, erlebnisreich und vor allem total locker! Und dass liegt vor allem an den tollen Leuten, die mit dabei waren. Umso mehr freue ich mich auf Nepal!
Liebe Grüße Janina