Verrückte Sachsen

Im Oktober 2008 war ich im Bergell unterwegs. Erwin Kilchör, ein alter Bergführer, hatte mich eingeladen, mit ihm zu klettern. Die news damals hiess „Eine Kletterwoche der Superlative“. Es war wirklich eine tolle Zeit, die auf eine ganz spezielle Weise begann. Ich kannte Erwin nur von einigen Telefonaten, deshalb war ich schon etwas verwundert, als er mich auf eine ziemlich merkwürdige Art bei sich zu Hause begrüßte. Seine ersten Worte lauteten etwa so: „Du weißt schon, dass die Sachsen völlig verrückte Kerle sind“. Ich versicherte ihm, dass er bei mir ganz beruhigt sein könne. Ich sei ganz und gar nicht verrückt. Aber ich wollte natürlich wissen, wieso er darauf komme. Er führte mich in sein Wohnzimmer und zeigte mir ein Bild, welches dort an der Wand hing. Was ich darauf sah, war in der Tat dazu geeignet, ein falsches Bild von den Sachsen zu bekommen. Ich war wie vom Donner gerührt. Auf diesem Bild war ein Mensch zu sehen, der auf eine ganz eigene, sächsische Art einen Gipfel begeht. Er springt auf ihn drauf. Erwin stand neben mir und wir beide schauten sprachlos auf dieses schaurig schöne Bild und dachten schweigend darüber nach, was für ein Mensch derjenige wohl sein muss, der wahrscheinlich freiwillig so etwas tut. Und damit auch alle wissen, worum es hier eigentlich geht, zeige ich dieses sehr ungewöhnliche Bild.

Es ist aber nicht nur ein völlig durchgeknallter Sprung, der hier zu sehen ist, sondern auch ein großartiges Foto aus dem Kalender von Mike Jäger, der hier nichts dem Zufall überlassen hat. Was Erwin und mich aber nun am meisten interessierte, war der Mensch, der diesen Sprung gewagt hat. Ein gewisser Uwe Daniel, war auf dem Foto zu lesen, springt vom Massiv auf einen Gipfel namens Schwager. Dieser Mann, so war ich überzeugt, konnte definitiv nicht besonders am Leben hängen. Ich wollte mir nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn er nicht auf dem Schwager ankäme. Denn ob er dieses Husarenstück auch tatsächlich überlebt hatte, war ja auf diesem Foto nicht zu sehen. Erwin fragte mich, ob ich jemals etwas von diesem Uwe Daniel gehört hätte. Nein, ich hatte nicht.

Ende des vergangenen Jahres saß ich 14000 Kilometer von Sachsen entfernt am anderen Ende der Welt in Patagonien in einem kleinen Hostel, um die Akkus meiner Kamera aufzuladen, als sich ein junger Mann neben mich setzte. Hallo, ich bin der Uwe, sprichst Du deutsch, fragte er mich auf englisch. Und als ich das bejahte, hörte er die nächsten zwei Stunden nicht mehr mit dem Reden auf. Das war auch nicht sehr verwunderlich, denn er war seit Monaten allein in Südamerika unterwegs. Ich erfuhr, dass er aus Schmilka in Sachsen kommt und ein ausserordentlich traditionsbewusster Kletterer ist. In El Chaltén wartete er auf seinen Partner, mit dem er gemeinsam den Cerro Torre besteigen wollte. Ich war sehr beeindruckt. Als ich dann auch mal zu Wort kam, fragte ich ihn, was er denn schon so in der Sächsischen Schweiz geklettert wäre und nun klärte sich auf, wer da vor mir saß, denn ganz nebenbei, so als ob es gar nichts sei, erwähnte er den Sprung auf den Schwager. Es dauerte eine Weile, bis ich realisiert hatte, dass nicht irgendein Sprung gemeint war, sondern DER SPRUNG! War denn das zu fassen?

Nun wurde mir alles klar. Zu diesem Wahnsinnssprung passte das Vorhaben, auf den schwierigsten Berg der Welt zu klettern. Doch eigentlich machte Uwe ganz und gar nicht den Eindruck, als sei er todessehnsüchtig. Im Gegenteil, er sprühte nur so vor Lebenslust. Wir feierten Weihnachten zusammen, dann gingen wir unserer Wege. Wir scheiterten am Fitz Roy, Uwe musste mit seinem Partner am Cerro Torre ebenfalls umkehren. Doch wenn wir wieder in Deutschland sind, so hatten wir uns versprochen, wollten wir auf alle Fälle miteinander klettern. Und genau das haben wir jetzt über Ostern auch getan.

Tja und nun beginnt das eigentlich besondere an dieser kleinen Geschichte. Uwe ist tatsächlich alles andere als einer, der unvorsichtig ist. Im Gegenteil. Der Sprung auf den Schwager, der meines Erachtens eine Erweiterung der Schwierigkeitsskala für Sprünge in der Sächsischen Schweiz (von 1-4) erforderlich macht, sei nach seiner Ansicht viel weniger gefährlich, als eine schlecht gesicherte Route im 5. Schwierigkeitsgrad im Vorstieg zu klettern. Und so etwas tun viele jedes Wochenende ohne groß darüber nachzudenken. Da ist natürlich etwas dran, auch wenn für mich feststeht, dass ich lieber die Fünf klettere als einen solchen Sprung zu wagen.

Uwe springt immer noch gern von einem auf den anderen Gipfel: Hier links ein Sprung der Schwierigkeit 2 vom Kipphornwächter auf den Zufallsturm. Der Sprung oben auf den Schwager ist übrigens mindestens ein Sprung der Schwierigkeit 5. Rechts Uwe gemeinsam mit seiner Freundin Tina am Ring im Südweg an der Wand am Kipphorn. Hier auf diesem Bild ist deutlich zu sehen, dass Uwe keineswegs vor hat, sich umzubringen, eher im Gegenteil 🙂

Wir hatten gemeinsam mit unseren Freundinnen ein tolles Osterwochenende, an dem ich einen der vorsichtigsten Kletterer kennenlernen durfte, dem ich je begegnet bin. Mut und Vorsicht schliessen sich also keineswegs aus. Es ist dieses wunderbare kleine Gebirge wo noch Regeln gelten, die vom Kletterer zugleich Ernsthaftigkeit, großen Mut und noch größeres Verantwortungsbewusstsein fordern. Hier gibt es kein Netz, welches mich auffängt. Hier muss ich genau wissen, was ich tue. Doch für das Mehr an Einsatz gibt es reiche Ernte. Denn wo die Erinnerungen an sonnenbeschienene, bohrhakenabgesicherte Genussklettereien schneller in Vergessenheit geraten, als man sie in seinem Fahrtenbuch notieren kann, bleiben die Erinnerungen an die Kämpfe, die Angst und die Überwindung im Sächsischen Sandstein manchmal für immer im Gedächtnis eingebrannt.

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2 Antworten

  1. Janina sagt:

    Wirklich ein wahnsinniger Sprung, der ohne Zweifel eine Menge Mut erfordert! Beeindruckend 😉

  2. Veronica sagt:

    Hallo Olaf,
    schön, dass ihr über Ostern klettern wart! Bei dem tollen Wetter!!
    Beim Anschauen der Sprung-Bilder schlottern mir die Knie (obwohl ich ja nur ganz ungefährlich am Schreibtisch sitze ….)!!! Springst du womöglich manchmal auch???
    Liebe Grüße an euch beide!
    Veronica

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