Oberreintal
Wenn der gemeine Klettersachse ins Alpine will, dann muss er ziemlich weit fahren. So ein Wochenende ist da eigentlich viel zu kurz. Oft ist es auch ein Problem, sich zu entscheiden, wohin es denn gehen soll. Das Potential in den Alpen reicht für Dutzende von Klettererleben. Doch bei mir hat sich von den näher gelegenen Zielen inzwischen ein Gebiet ganz besonders herauskristallisiert, welches sich von allem, was ich kenne, durch verschiedene sehr positive Aspekte absetzt. Eigentlich, so habe ich gerade überlegt, sollte ich diesbezüglich stillschweigen, denn überfüllte Hütten und Gedränge am Stand sind mir ein Graus. Doch die Gefahr der permanenten Überfüllung besteht hier nicht. Ich spreche vom wildromantischen Oberreintal.
Zu allererst gibt es hier auf engstem Raum nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, sich im alpinen Gelände auszutoben. Routen in allen Schwierigkeitsgraden und Längen von Genusskletterei im 4. Grad bis zu top abgesicherten Sportkletterrouten im 9. Grad sind in großer Auswahl zu finden. Doch auch die Freunde der psychisch anspruchsvollen Routen kommen hier noch immer voll und ganz auf ihre Kosten. Gute Klettereien findet man aber an vielen Stellen der Alpen. Was man aber so gut wie nirgends mehr finden kann, ist eine Hütte wie die Oberreintalhütte.
Sie ist bis heute eine echte Kletterhütte geblieben. Bis vor kurzem wurden die Wanderer auf diese Tatsache durch ein Schild rigoros aufmerksam gemacht. Wanderer seien auf der Oberreintalhütte unerwünscht. Dieses Schild musste allerdings auf Drängen des DAV entfernt werden. Wenn sich nun doch ein Wanderer hier hinauf verirrt, und meint, sich als Belohnung für den langen Aufstieg mit Kaiserschmarrn und Speckknödelsuppe stärken zu können, wird schwer enttäuscht. Hier oben muss man sich selbst versorgen. Ein Grund, warum die Hütte ganz selten mal richtig voll wird. Der Rucksack ist schon ziemlich schwer, wenn für vier oder fünf Tage sämtliches Essen herauf getragen werden muss. Nur Getränke bekommt man auf dieser Hütte. Allerdings könnte man auf die nun auch noch verzichten, denn das Wasser hier oben ist ganz vorzüglich. Doch von irgendwas muss der Hüttenwirt ja leben. Und der ist der eigentliche Clou.
Wie oft bekommt man zu hören, wie gut die alten Zeiten waren, wie viel besser früher alles gewesen ist. Aber wehe einer will die guten alten Zeiten bewahren. Hans Bader ist so einer. An ihm scheiden sich die Geister, wie in Internetforen nachzulesen ist. Wer seine Regeln nicht akzeptiert, wird es schwer haben mit ihm. Er hat zum Beispiel ein Handy an die Tür genagelt, um unmissverständlich klar zu machen, dass er die auf seiner Hütte überhaupt nicht mag. Morgens um sieben Uhr beendet er die Nachtruhe ohne Erbarmen, weil er der Meinung ist, dass die Leute zum klettern da zu sein haben und nicht zum pennen. Er kann es auch nicht leiden, wenn an Regentagen jemand nutzlos und untätig auf seiner Hütte herumtrödelt. Wenn es zu nass zum klettern ist, dann kann man ja immer noch Routen studieren, Einstiege finden oder wenigstens wandern gehen.
Hans gehört zu der aussterbenden Spezies von Leuten, welche die Höhe des verdienbaren Geldes noch nicht zu ihrem obersten Prinzip gemacht haben. Er hat andere Prinzipien. Eben zum Beispiel den einmaligen Charme seiner hundert Jahre alten Hütte so zu bewahren, wie er schon immer war. Und genau das gefällt mir hier am meisten und nicht nur mir. Doch auf ungeteilte Gegenliebe treffen die Sitten hier oben auch bei der Gilde der Kletterer nicht.
Ich hab hier oben gemeinsam mit Ulf Wogenstein noch ein bisschen etwas von dem versäumten Klettersommer aufholen wollen. Und das ist uns auch halbwegs gelungen. Der Sonnabend war verregnet, aber am Freitag und Sonntag sind wir zwei Routen geklettert, 9 Seillängen im 5. und 6. Grad, gut abgesichert, Genusskletterei vom feinsten. Ich hätte viel dafür gegeben, hier einfach noch eine Woche dranhängen zu können. Zu schön ist es im Oberreintal, um nach zwei oder drei Tagen schon wieder nach Hause zu fahren. Doch beim nächsten Mal, soviel steht schon fest, werde ich genug Zeit haben, bis ich so viel geklettert bin, dass ich mich nicht mehr am Kopf kratzen kann.