Lawine am Everest

Es ist die folgenschwerste Katastrophe, die sich am Everest je ereignet hat. Am 18. April gegen 6.30 Uhr löste sich eine gewaltige Lawine von der Westschulter des Everest. Sie verschüttete einen Teil der Aufstiegsroute im oberen Bereich des Khumbueisfalles in etwa 5800 m Höhe unweit vom Lager 1. Die Route verläuft in diesem Bereich gefährlich nahe an dieser extrem lawinengefährlichen Flanke.  

Auf diesem Überblick aus nordwestlicher Richtung ist sehr gut zu erkennen, auf welchem Abschnitt der Route sich das Unglück ereignet hat. Dieses aktuelle Foto habe ich aus etwa 5900 m Höhe vom Pumo Ri aus aufgenommen.

Zu einem ungünstigeren Zeitpunkt hätte sich der Lawinenabgang nicht ereignen können, denn zu dieser Tageszeit herrscht in der Saison immer Hochbetrieb gerade auf diesem Abschnitt der Route. Vor Tagesanbruch etwa zwischen vier und sechs Uhr morgens wird in der Regel das Basislager verlassen, um der Hitze im Eisbruch und im Tal des Schweigens zu entgehen. Ausserdem hoffen alle, dass in der morgendlichen Kälte die Gefahr von Eisschlag geringer ist.

Zunächst war völlig unklar, was genau geschehen ist und wieviele Opfer es gegeben hat. Doch heute ist sicher, dass 16 Menschen den Tod fanden und mindestens sieben zum Teil schwer verletzt wurden. Fast alle Betroffenen sind Sherpas, zwei stammen aus der ethnischen Gruppe der Tamang bzw. der Gurung. Kein einziger ausländischer Bergsteiger ist unter den Opfern. Wieder mussten die Sherpas den höchsten Blutzoll zahlen. Mein Mitgefühl gilt besonders den Hinterbliebenen. Alles Frauen und Kinder, die nun ohne Ernährer ein riesengroßes Problem haben.

Dieses Foto, aufgenommen während meiner Everest-Expedition 2005, zeigt exakt den Bereich, an dem sich die Katastrophe ereignet hat. Die gewaltigen Seracs im linken Teil des Bildes bedrohen massiv die direkt darunter verlaufende Route, wie auf diesem Foto unschwer zu erkennen ist. Hier musste irgendwann eine Katastrophe passieren.

Als ich am Osterwochenende beim Klettern in der Sächsischen Schweiz von dieser Tragödie hörte, war ich wie gelähmt, denn ich habe mich ja erst vor wenigen Tagen von meinen Freunden im Khumbu verabschiedet. Mit Karma Rita und seinem Sohn Phura, meine Helfer am Nirekha Peak, Lakpa Gelbu Sherpa, mein Teammitglied an Everest und Ama Dablam sowie Pemba Dorji, mein langjähriger Yaktreiber sind gleich vier meiner Sherpa-Freunde in diesem Jahr am Everest unterwegs. Seit heute weiss ich, dass keiner von ihnen auf der Todesliste steht. Das ist die gute Nachricht!

Doch wie soll man diese Tragödie bewerten? Gleich muss ich in einem Interview Stellung beziehen. Heute wurde bekannt, dass die Mehrheit der Sherpas ihre Arbeit am Everest einstellen will. Allerdings ist das letzte Wort dazu wohl noch nicht gesprochen. Und ich hätte mich auch sehr gewundert, wenn die Sherpas diesbezüglich mit einer Stimme sprächen. Denn Tatsache ist, dass sich die Sherpas der Gefahr am Everest sehr wohl bewusst sind. Dazu passiert einfach zu viel.

Lawinen am Everest sind normal und alltäglich. Jeder, der hier unterwegs ist, weiss das. Die Sherpas am allerbesten!

Deshalb habe ich mich immer gefragt, warum die Sherpas so verrückt danach sind, „Everester“ oder noch besser „Summiter“ zu sein, also den Gipfel des Everest erreicht zu haben. Lakpa Gelbu und Karma Rita waren inzwischen sechs Mal oben. Karma Rita hat eine gut gehende Lodge in Phortse. Er besitzt Yaks, und er besteigt, zum Beispiel mit mir und meinen Gästen, kleinere Gipfel, die viel weniger gefährlich sind und verdient dabei auch gutes Geld. Er muss nicht zum Everest gehen und kann trotzdem sehr gut leben. Doch was macht er? Im vergangenen Jahr hat er seinen erst 16 jährigen Sohn zum ersten Mal mit zum Everest geschleppt und war unglaublich stolz, dass Phura bis auf 8600 m gekommen ist. Die wirtschaftliche Not jedenfalls treibt diese beiden nicht in die Todeszone.

Ähnlich unnötig ist es für Pemba Dorji, am Everest sein Leben zu riskieren. Auch er besitzt eine Lodge in Dingboche, die er verpachtet hat sowie sechs Yaks, die ein sicheres Einkommen garantieren. Ähnlich ist es auch bei einem anderen Freund, Ang Dawa, mit dem ich in den vergangenen Jahren am Island Peak und am Lobuche unterwegs gewesen bin. Er hat 19 Everest-Expeditionen nur für das eine Ziel hinter sich gebracht, irgendwann genügend Geld zu besitzen, um nach Amerika auswandern zu können. Seit diesem Jahr hat er das nun endlich geschafft. Ich frage mich, was er, der nie eine Schule von innen gesehen hat, dort jetzt machen will.

2005 überrollte eine Eislawine ebenfalls von der Westschulter des Everest das gesamte Lager 1. 70 Zelte wurden zerstört. Die meisten waren unter meterhohen Schnee- und Eismassen einfach verschwunden. Es gab damals acht schwerverletzte unter denen aber keine Sherpas waren.

Noch weniger verständlich ist mir die Sache bei Lakpa Gelbu. Auf meine Empfehlung hatte er einen sicheren Job bei der nepalesischen Agentur in Aussicht, mit der ich nun schon seit Jahren zusammen arbeite. Er hätte dort bei bester Bezahlung als Trekking- und Climbingguide arbeiten können. Aber er schlug das Angebot in den Wind und zog es vor, unabhängig zu bleiben, um Jahr für Jahr zum Everest gehen zu können.

Es ist also bei den wenigsten so, dass sie die Not treibt, am höchsten Berg der Welt Kopf und Kragen zu riskieren. Sie tun das aus zwei Gründen, die sehr gut nachvollziehbar sind: Erstens für Geld. Ein starker Sherpa kann das fünf bis zehnfache! eines durchschnittlichen nepalesischen Jahresgehaltes auf einer einzigen Everest-Expedition verdienen. Aber wie wir ja sahen, ist Geld für viele nicht unbedingt der wichtigste Grund. Ich habe den Eindruck, dass Stärke und Unerschrockenheit als Attribute von Männlichkeit bei den Sherpas eine riesengroße Rolle spielen. Ihr Ansehen in der Gemeinschaft steigt mit jedem neuen Aufstieg zum Gipfel. Für die Sherpas ist der Everest also auch eine Frage der Ehre. Sie wollen das tun, ja sie reißen sich regelrecht um die Jobs bei den Expeditionen.

Der Khumbueisfall ist aber nicht nur wegen der Lawinengefahr einer der gefährlichsten Orte auf diesem Planeten. Spalten, Eisschlag, Abstürze sind hier buchstäblich an der Tagesordnung. 2005 kamen zwei Bergsteiger hier nur deshalb um, weil sie fehlgetreten und abgestürzt sind, an eigentlich harmlosen Wegabschnitten.

Deswegen wundere ich mich schon über das Ansinnen der Sherpas, jetzt die Saison ausfallen zu lassen. Einerseits wollen sie trauern. Aber sie wollen auch entschieden höhere Entschädigungen für die Hinterbliebenen, höhere Versicherungssummen sowie die Übernahme der Kosten der medizinischen Behandlung der Verletzten durch den Staat durchsetzen. Nachvollziehbare Forderungen. Doch die nepalesische Regierung ist sicher nur ein Adressat für ihre aktuellen Nöte und Ansprüche.

Die Sherpas müssen begreifen, dass sie diejenigen am Everest sind, die das Sagen haben. Der Everest gehört buchstäblich ihnen. Keine Agentur und sei sie noch so reich und mächtig und auch nicht die nepalesische Regierung kann irgend etwas an diesem Berg ohne die Sherpas ausrichten. Wenn sich dort also etwas ändern soll, dann müssen die Sherpas diese Veränderungen vor Ort durchsetzen. Sie müssen selbst dafür sorgen, dass ihre Jobs sicherer werden. Denn sie haben die Macht dazu.

Ich bin gespannt, ob es tatsächlich dazu kommt, dass sich die Sherpas vom Everest zurückziehen, denn in dem Fall müssten sie auf eine Menge Geld verzichten. Aber es wäre ein wohltuendes und unübersehbares Zeichen! Denn dann wäre das Bergsteigen am höchsten Berg der Welt ein einziges Mal wieder ein ehrliches Geschäft. Und jeder, der es ohne Sherpas zum Gipfel schafft, ein großer Alpinist.

 

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7 Antworten

  1. Mayk sagt:

    Hallo Olaf,
    ich war mit meiner Frau am Wochenende ebenfalls in der Sächsischen Schweiz. Wir saßen am Freitag wegen des schlechten Wetters in der Schrammsteinbaude fest, als wir von den Unglück Nachricht über die Medien erhielten. Mir war sofort klar, dass sich diese Katastrophe in ziemlicher Nähe unseres Aufenthaltsortes ereignet haben muss. Als wir dort sein durften, war es so friedlich und ruhig. Unfassbar. Es macht mich sehr traurig. Mein Mitgefühl geht auf die Reise zu den Hinterbliebenen. Ich danke Dir, Olaf, für Deinen Beitrag. Bis bald mal wieder! Mayk

  2. Veronica sagt:

    So kurz nach dem Aufenthalt in Kathmandu von diesem Lawinenunglück zu hören, hat mich sehr betroffen gemacht. Danke für deine ausführliche News zu diesem Thema.

  3. Robin H. sagt:

    Schreckliche Tragödie. Es war klar, dass es irgendwann zu so einem Unglück kommen musste. Es war bloß eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Brice hatte ja in der Vergangenheit eine Expedition mitunter wegen der heiklen Passage, die du beschrieben hast abgesagt.

    Persöhnlich würde ich es sehr begrüßen, wenn die Sherpas sich organisieren und Mindeststandards was die finanzielle Absicherung bei Unfällen anbelangt durchsetzen. Leider sehe ich das dort sehr skeptisch, es gibt viele windige Agenturen vor Ort welche Expeditionen auch zu Dumpingpreisen anbieten können, da wie du schon sagst die Sherpas aber auch andere etnische Gruppen sich geradezu um die Jobs am Everest reißen.

    Aus finanziellen Gründen wird wohl alles in etwa so weiterlaufen wie bisher. Die einzigen, die wirklich etwas ändern können sind die Bergsteiger selbst. Wenn man dort auch mehr auf den klassischen Alpinstil zurückgreifen würde und sich so nur möglichst kurz und mit weniger Personal in Gefahrenzonen aufhalten müsste. Natürlich wäre der Umsatz am Everest selbst nicht mehr so groß, aber von den 100.000 Besuchern, die jährlich in Lukla landen gehen die wenigsten auf den Everest und alle lassen Geld dort.

    • Olaf Rieck sagt:

      Hallo Robin, vielen Dank für Deinen Beitrag. Du hast Recht. Auch die Klienten der Agenturen, Du nennst sie Bergsteiger, könnten etwas ändern. Aber ihnen traue ich das leider am allerwenigsten zu. Alpinstil bedeutet, viel mehr Eigenverantwortung, mehr Erfahrung, mehr Können, sehr viel mehr persönlicher Einsatz, ein viel höheres Risiko. Das würde die Sherpas entlasten und ihr Risiko verringern aber natürlich auch ihre Einnahmen schmälern. Beste Grüße Olaf

  4. Andreas sagt:

    Hallo Olaf,

    Du hast sicher nähere Kontakte zu den Sherpas und kannst das ganz gut einschätzen. Ich denke, das sich seit einiger Zeit aber auch sehr viel geändert hat. Die Sherpas scheinen sich ihrer Rolle durchaus bewusst zu sein. Diese merkwürdige Schlägerei vor einem Jahr, das sensible Verhalten gegenüber sehr erfahrenen Bergsteiger und sicher auch das was Du beschreibst passt da ins Bild.

    Das Hauptproblem des Everest besteht doch darin, das zuviele Leute auf den Berg wollen. Und von diesen vielen Leuten sind genügend dabei, die nicht die Erfahrung, das Know – How und auch nicht die bergsteigerischen Fähigkeiten mitbringen um diesen Berg wirklich zu besteigen.
    Deshalb braucht man eben auch diese Unmenge an Sherpas.

    Umgekehrt ist es aber auch so, das ich jemand, der mein Leben bewahrt sehr viel verdienen sollte. Denn er bringt mich ja wieder heil runter. Und da gibt es offenbar ein Ungleichgewicht.
    Das ist nicht gut und führt zu Unzufriedenheit. Da kann ich die Sherpas verstehen.

    Ich denke aber, das die Saison nicht abgesetzt wird und das Expeditionen aufsteigen werden.

    Grüße,
    Andreas

    • Olaf Rieck sagt:

      Hallo Andreas, Du sagst es. Die Ursache für die Probleme und Opfer am Everest ist in erster Linie die große Menge von zum Teil sehr unerfahrenen Leuten, die dort unterwegs sind. Sie machen die vielen Sherpas erforderlich. Für sie fixieren die Sherpas Seile, legen Leitern über Spalten und richten unglaublich komfortable Lager ein. Wer einmal im Lager 2 am Everest war, der wird diese Dekadenz nie mehr vergessen. Das alles muss durch den Eisbruch raufgeschleppt werden, weil die „Bergsteiger“ das verlangen. Und die Sherpas tun das sehr bereitwillig, weil sie Bonuszahlungen für jede Last bekommen. Man könnte diesbezüglich eine Menge verändern, wenn man wollte…

  5. Heiko sagt:

    Tja Olaf und Andreas,

    in wenigen Wochen wird dieses Unglück zumindest in Europa vergessen sein, die Entwicklung, dass die Leute wie die Lemminge meinen, auf den ME zu müssen wird sich nicht ändern. Wir von der Bergwacht müssen mit derlei Unglücken umgehen lernen und lernen tun die „Bergsteiger“ am wenigsten… Viele verdienen eben ihr Geld damit …. Business as usual … Ich wette in einem Jahr redet keiner mehr von den 14 Familien die hinter den verunglückten Sherpas stehen … (Allerdings ist das auch bei uns so: Erste Betroffenheit und Anteilnahme an den Hinterbliebenen Mütter und ihren Kindern und später können sie doch sehen, wie sie alleine klar kommen …) Olaf brachte es auf ein Wort: Dekadenz … Ich ergänze das nur durch die Worte „Falsche Anteilnahme“ und Darwinistisches-Prinzip …

    Grüße Heiko

    PS: Auch wenn der Vergleich hinkt: Wer spricht von den getöteten Bundeswehrsoldaten der letzten Jahre -> Berufsrisiko ???? Wir alle leben wirklich in einer dekadenten Gesellschaft … Mann o Mann …

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