Kaum eine andere Trekkingroute kann es mit diesem Weg zwischen Himmel und Erde aufnehmen, und das nicht nur deshalb, weil der Fuß des höchsten Berges der Welt den Endpunkt des Pfades darstellt. Wer bis dahin durchhält, kann die Ehrfurcht einflößende Kraft des Mount Everest hautnah spüren.
Die Anstrengungen des Fußmarsches werden belohnt mit einigen der großartigsten Bergblicken der Welt. Viele berühmte Himalayagipfel säumen diese Route und mit der Ama Dablam (6856 m) und dem Pumo Ri (7145 m) sind gleich zwei Eisriesen darunter, die zu den schönsten Bergen der Erde zählen.
Es gibt wohl kaum einen Bergfreund, der nie von diesem Weg gehört hat und nicht davon träumt, ihn einmal zu gehen. So ging es auch mir, bevor ich das erste Mal in den Himalaya reiste. Als es 1994 dann endlich soweit war, wusste ich sofort, daß ich mit der Region um den Mount Everest mein Traumland gefunden hatte. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, zu dem ich immer wieder zurückkommen würde, dann war es dieser.
Nur zwei Tagesmärsche von Namche Basar, dem Hauptort im Everestgebiet entfernt, gibt es einen Flugplatz. Für Trekkingtouristen mit wenig Zeit ist solch eine Anreisemöglichkeit natürlich verlockend. Doch diese Bequemlichkeit rächt sich allzuhäufig. Ein großer Nachteil daran ist die mangelhafte Höhenakklimatisation, denn von Lukla, wo der Flugplatz liegt, geht es in wenigen Tagen über die Viertausendmetergrenze hinaus. Bei vielen Menschen beginnen in diesen Höhen ernsthafte Probleme, wobei Kopfschmerzen sowie Schlaf- und Appetitlosigkeit noch die harmloseren Symptome sind.
Wir wussten von diesen Problemen und entschieden uns für den Anmarsch von Jiri. Nach Jiri, einem Ort etwa auf halben Weg zwischen Kathmandu und dem Everestgebiet, führt eine Straße. Bis hier wollen wir mit dem Bus fahren und dann in etwa zehn Tagen zu Fuß Namche Basar erreichen. Obwohl dieser Weg nicht nur durch eine wunderschöne Mittelgebirgslandschaft, sondern auch durch viele ursprüngliche Dörfer führt, gehen ihn nur relativ wenige Trekker. Denn der Weg ist alles andere als ein geruhsamer Spaziergang. Wir sind zehn Tage lang parallel zur hohen Himalayakette unterwegs. Das bedeutet, dass wir auf unserem Weg eine Vielzahl von Tälern durchqueren müssen, kilometertief eingegraben von reißenden Flüssen, die von den großen Gletschern gespeist werden.
Wenn wir unten angelangt sind, geht es über eine der vielen spektakulären Hängebrücken über den Fluss und auf der anderen Seite müssen wir dann mal eben wieder 1000 oder 2000 Höhenmeter bergauf. Bis nach Namche Basar sind nicht weniger als 6500 Höhenmeter im Aufstieg und 5000 im Abstieg zu überwinden. Für die Akklimatisation ist dies natürlich sehr günstig. Wenn sich der Reisende dafür entscheiden sollte, diesen Weg nicht zu gehen sondern gleich nach Lukla zu fliegen, so ist die Zeitersparnis doch nicht so groß, wie es den Anschein haben mag. Denn er muss zumindest einen Teil der Zeit, die er unterwegs gewesen wäre, in der Umgebung von Namche für die Akklimatisation aufbringen.
Unser Weg zum Mount Everest führt durch das Siedlungsgebiet der Sherpas. Der Name dieses weltberühmten Bergvolkes ist tibetisch und setzt sich zusammen aus der Silbe Shar, Osten und Pa, Volk. Die Sherpas sind also das Volk, welches aus dem Osten kam. Angezogen vom heiligen Berg Gauri Shankar überschritten sie vor 500 Jahren den 5700 m hohen Paß Nangpa La und siedelten in der Solu-Khumbu-Region südwestlich des höchsten Berges der Welt. Gegenwärtig zählt das kleine Bergvolk etwa 60000 Menschen. Sie sprechen tibetisch und ihre Religion ist der Lamaismus. Auch heute noch betreiben die Sherpas Ackerbau und Viehzucht, obwohl der Tourismus immer mehr ihr Leben bestimmt. Berühmt geworden sind sie durch ihre sprichwörtliche Ausdauer und Zähigkeit bei zahllosen Himalaya-Expeditionen.
Nach über einer Woche anstrengendem Auf und Ab biegen wir in das wilde Tal des Dudh Kosi ein. Wild schäumend stürzt der Fluss das nach oben immer enger werdende Tal hinab. Der Weg führt an den Berg geschmiegt oftmals in schwindelerregender Höhe über dem Fluss entlang. Bald geht es nur noch bergauf. Das letzte Stück Weg vor Namche Basar ist ein 600-Höhenmeter-Aufstieg, der es in sich hat, zumal die 3000 Meter-Grenze schon deutlich überschritten wird. Namche liegt auf 3450 m Höhe hufeisenförmig an den terrassierten Abhängen eines steilen Talkessels. Der Ort ist voller Geschäftigkeit, und es ist sehr aufregend, das fremdartige Leben und Treiben der Sherpas zu beobachten.
Besonders interessant ist Namche Basar am Samstag. An diesem Wochentag wird ein großer Markt abgehalten. Hunderte von Trägern kommen schwerbeladen aus allen Himmelsrichtungen schon am Tag zuvor in Namche an. Meist sind es Bauern, die die Überschüsse ihrer Felder hier verkaufen wollen. Am faszinierensten sind jedoch die Tibeter. Sie müssen sowohl im Sommer als auch im Winter den Nangpa La überqueren, um in Namche ihre Waren anbieten zu können. Diesen fast 6000 m hohen Pass im Winter bei Temperaturen von 20 oder 30°C unter Null ohne spezielle Ausrüstung und mit schweren Lasten zu überschreiten, ist eine unvorstellbare Strapaze, die auch schon viele Opfer gefordert hat. Ich glaubte immer zu wissen, was jemand auszuhalten im Stande sein muss, um als hart zu gelten. Das war ein Irrtum. Wie harte Menschen wirklich aussehen und was sie tatsächlich aushalten können, weiß ich erst, seit ich diese Tibeter kennengelernt habe.
Nach zwei Rast- und Akklimatisationstagen in Namche geht es weiter aufwärts zum Kloster Tengboche, der traditionell nächsten Station auf diesem Trek. Wir sind fünf Stunden an diesem Tag unterwegs. Doch diese Zeit wird vielleicht die unvergesslichste auf unserer Reise sein. An Berghängen kaum ansteigend führt uns ein Traumweg zwischen strahlend blauem Himmel und Erde entlang. Tausend Meter unter uns rauscht der Imja Drangka. Es dauert eine Weile bis wir wirklich begreifen, was wir nun endlich zum ersten Mal sehen. Dort hinten mit der gewaltigen Schneefahne steht der höchste Berg der Erde, der Mount Everest. Allerdings ist nur seine Gipfelpyramide sichtbar. Mit Lhotse (8511 m) und Nuptse (7879 m) verstellen zwei andere gewaltige Eisriesen die Sicht auf den Everest. Immer mehr berühmte Himalaya Gipfel tauchen auf und als wir am Kloster Tengboche eintreffen, umgibt uns ein großartiges Panorama aus Sechs-, Sieben- und Achttausendern. Dieses Panorama macht den Ort zu einem der schönsten der Welt.
Ein sichtbares Zeichen, dass wir an Höhe gewinnen und den menschenfeindlichen Fels- und Eisregionen immer näher kommen, ist die karger werdende Vegetation. Auch die Höhe macht uns jetzt schon deutlich zu schaffen. Deshalb verlangsamen wir unseren Aufstieg, gehen die nächsten zwei Tage nur wenige Stunden. Knapp zwei Wochen nach dem Aufbruch in Jiri treffen wir in Lobuche ein, der auf 4930 m höchsten ganzjährig bewirtschafteten Alm der Welt. Hier werden im Sommer Kartoffeln angebaut und Yaks zur Weide ausgetrieben. Ein paar bescheidene Herbergen bieten zwar nicht allzuviel Komfort aber immerhin ein Dach über dem Kopf. Lobuche ist der Ausgangspunkt für den Ausflug in das Basislager des Mount Everest.
Gleich nachdem wir am frühen Morgen aufgebrochen sind, taucht wieder ein prachtvoller Siebentausender auf, der Pumo Ri (7145 m). Er stellt eine makellose Fels- und Eispyramide dar und wird ebenso wie die Ama Dablam für einen der schönsten Berge der Erde gehalten. Pumo heißt übrigens Tochter und Ri Berg, und der Namensgeber hat dabei sicher an den tibetischen Namen des Everest gedacht, Chomolungma, Göttin-Mutter der Erde.
Der Pumo Ri hat einen kleinen unscheinbaren Nebengipfel, 5545 m hoch. Er ist der Punkt in Nepal, von dem aus der Mount Everest am besten zu sehen ist, vorausgesetzt das Wetter macht einem keinen Strich durch die Rechnung. Nach nur zwei Stunden sind wir am Gipfel und können uns an den gewaltigen Felsmassen des Everest, die sich vor uns auftürmen, nicht satt sehen. Doch wir müssen weiter, wenn wir heute noch das Basislager erreichen wollen. Die letzten Wegstunden sind sehr mühsam, denn es geht jetzt nur noch über weglose Geröllfelder, die der berühmte und gefürchtete Khumbu-Gletscher zusammengeschoben hat. Plötzlich stehen wir vor einem kaputten Zelt. Wir sind also angekommen. Das Zelt ist leer, die Expeditionssaison beginnt erst in einem Monat. Dann allerdings stehen hier manchmal fünfhundert oder noch mehr Zelte. Den Berg selbst kann man von hier aus nicht mal sehen. Trotzdem, hier oben im Basislager des Mount Everest zu stehen, ist für die meisten eine Art Wallfahrt, die Erfüllung eines ihrer größten Lebensträume. Diesem ungeheuerlichen Berg so nahe gekommen zu sein, hat aber auch die letzte Anstrengung von ihnen gefordert. Auch mich hat der Riesenberg überwältigt. Er wirkt auf mich wie ein Magnet, und ich weiß, dass seine Anziehungskraft selbst dann nicht nachlassen wird, wenn ich auch tausende Kilometer von ihm entfernt sein werde.