Das Volk, das aus dem Osten kam
Bis heute weiß niemand, warum vor 500 Jahren das Volk der Sherpa den kühnen Entschluß faßte, den riesigen Gebirgszug des Himalaya zu überqueren. Schon ihr tibetischer Name weist auf dieses große Rätsel hin. Shar bedeutet Osten, Pa heißt Volk. Die Sherpa sind also das Volk aus dem Osten. Ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet war Khan in Tibet. Von hier aus zogen etwa 60000 Menschen mit ihrer gesamten Habe über den 5700 Meter hohen vergletscherten Nangpa Paß. Ihr Ziel waren die menschenleeren von dichten Bergurwäldern bedeckten Täler des heutigen Khumbu-Gebietes südwestlich des Mount Everest. Hier begannen sie ein neues Leben. Flüchteten die Sherpas vor den kriegerischen Mongolen oder spielten religiöse Gründe eine Rolle? Zog sie der heilige Berg Gaurishankar an? Vielleicht wollten sie in seiner Nähe siedeln. Oder trieb die Sherpas lediglich die Aussicht auf ein weniger beschwerliches Leben in die fruchtbaren vom Monsun beeinflußten Täler des Khumbu?
Keiner weiß es genau. Eine Tatsache ist jedenfalls, daß nicht wenige mir bekannte Himalayareisende immer wieder in das Land der Sherpas zurückkehren, weil sie deren wohltuende Gesellschaft suchen. Ich selbst habe nie liebenswürdigere Menschen kennengelernt. Doch ihre weltweite Berühmtheit beruht nicht nur auf ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Bewundert werden sie vor allem wegen ihrer schier übermenschlichen Zähigkeit und Ausdauer sowie der Unempfindlichkeit gegenüber großen Höhen. Sie haben diese Eigenschaften in zahllosen Expeditionen immer wieder unter Beweis gestellt, so daß der Name Sherpa heute schon beinahe eine Berufsbezeichnung geworden ist und viele gar nicht wissen, daß mit diesem Namen ein Bergvolk in der Everest-Region gemeint ist.
Es gibt endlos viel über die Sherpas zu berichten, doch eine Begebenheit, die mir 1996 widerfuhr, sagt mehr über die Sherpas und ihr Wesen als vieles andere.
Wir hatten uns die Winterbesteigung eines Sechstausenders in den Kopf gesetzt. Doch das Unternehmen stand von Beginn an unter keinem guten Stern. In jenem Jahr war der Winter extrem kalt und schneereich. Wir rieben uns schon auf dem Weg zu unserm Berg völlig auf und scheiterten dann auch kläglich. Ganz am Anfang dieses Unternehmens aber spurten wir noch voller Tatendrang den ersten Abschnitt unseres Anmarsches von Dingboche nach Chukhung. Es war eine furchtbare Quälerei. Häufig sanken wir bis zur Brust im Schnee ein. Wir hatten gerade wieder den Weg verloren und hielten Ausschau nach Steinmännern, als eine winzige Gestalt hinter uns auftauchte, die offensichtlich ebenfalls in unserer Richtung unterwegs war. Sie ging nicht in unserer Spur und war drauf und dran, uns zu überholen. Offensichtlich kannte sie sich hier gut aus. Also warteten wir auf sie. Es dauerte nicht lange, und vor uns stand ein kleiner Sherpajunge von höchstens 10 oder 11 Jahren. Wir waren jetzt schon ziemlich beeindruckt. Er blickte kurz auf, rief den Namen Chukhung und zeigte dabei in die Richtung, in welcher die Alm lag. Als wir nickten, stapfte er an uns vorbei, so als sei es das selbstverständlichste der Welt, allein bei 10 Grad unter Null auf tückischem, tief verschneiten Blockgelände mitten im Himalaya unterwegs zu sein. Wir mußten uns sehr beeilen, ihm zu folgen.
In Chukhung auf fast 5000 Meter Höhe stehen ein paar kleine Herbergen, die allerdings nur im Frühjahr und Herbst bewirtschaftet werden. Dies war uns bewußt. Die Leute in Dingboche konnten aber nicht wissen, daß wir uns hier auskannten. Sie meinten, daß wir damit rechneten, dort oben eine Übernachtungsmöglichkeit vorzufinden. Deshalb machten sie sich Sorgen und schickten uns den Jungen hinterher.
Oben angekommen, schloß er eine von den kleinen Unterkünften auf und begann sofort, ein Feuer zu entfachen und Tee für uns zu kochen. Wir waren ziemlich erschöpft, doch er schien nicht mal eine Verschnaufpause nötig zu haben. Ihm hatte dieser Marsch nichts ausgemacht. Dieser Junge war wirklich ein eisenharter Bursche. Als er später anfing die Hütte für die Nacht vorzubereiten, gaben wir ihm zu verstehen, daß wir keineswegs vorhatten, hier oben zu bleiben, sondern zurück nach Dingboche wollten. Er freute sich darüber. Der endlose Rückmarsch schreckte ihn nicht. Es war ihm wohl lieber bei seiner Familie als allein mit zwei Fremden hier oben zu sein. Nachdem wir zur Stärkung noch einen tiefgefrorenen Schokoriegel gelutscht hatten, brachen wir wieder auf. Kurz vor Einbruch der Nacht trafen wir in Dingboche ein. Als wir uns von dem erstaunlichen Jungen verabschieden wollten, ließ er uns nicht gehen. Er schnappte sich einfach unsere Ärmel und zog uns hinter sich her.
Gleich darauf standen wir vor einem zweigeschossigen Haus, welches aus kunstvoll aufgeschichteten Steinen errichtet worden war. Durch die lose übereinandergelegten Schieferplatten auf dem Dach quoll Rauch. Unsere Ankunft schreckte ein halbes Dutzend Yaks hoch, die sich im Erdgeschoß aneinander drängten. Der Junge bahnte sich ohne Angst und sehr energisch einen Weg durch ihre Körper und hielt sie auf Distanz zu uns. Dann kletterten wir über eine Leiter in die obere Etage. Hier saß die ganze Familie des Jungen um das offene Herdfeuer. Niemand war erstaunt, uns plötzlich hier zu sehen. Der Raum, in welchem wir uns jetzt befanden, war angefüllt mit beißendem Qualm. Das Familienoberhaupt erzeugte ihn beim Anheizen des Küchenfeuers. Einen Schornstein gab es nicht. Der Rauch muß frei durch die Ritzen im Dach abziehen, was er aber gerade nicht tat. An den Wänden schimmerten auf vom Ruß gebeizten Regalen glänzende Kupfergefäße und große Mengen an Lebensmitteln. Auf dem Fußboden standen niedrige mit Teppichen bedeckte Bänke. Eine Ecke des Raumes war angefüllt mit Decken und Matratzen für das Nachtlager der Familie.
Die Hausfrau bot uns auf einem Schemel Platz an und reichte uns Tee und gedünstete Kartoffeln mit Chilli. Gemeinsam mit den beiden Geschwistern unseres jungen Begleiters, seiner Großmutter und seinen Eltern aßen wir schweigend an einem riesigen Kartoffelberg. Wir konnten uns nicht verständigen, aber das war in diesem Moment auch nicht nötig. Alle lächelten uns beide unentwegt an, gossen Tee nach und sorgten für Kartoffelnachschub. Das waren also die Leute, die uns vorsorglich ihren Sohn hinterher geschickt hatten. Die ganze Zeit konnte ich an nichts anderes denken. Nie zuvor waren wir einander begegnet. Zufällig steht ihr Haus am Weg, so konnten sie sehen, wie wir in Richtung Chukhung loszogen. Daraus schlossen sie, daß wir Hilfe brauchen würden. Also war es an ihnen, zu helfen, und sie taten es. Daran war für sie nichts besonderes. Gewundert hätten sie sich höchstens darüber, wie wichtig ich diese Kleinigkeit bis heute nehme. Ich habe es ihnen aber wohlweislich verschwiegen.