Der fürchterliche Schneemensch
Kein anderes Geschöpf des Himalaya hat die Neugier und die Phantasie der Menschen im Westen so angeregt wie der Yeti. Ich persönlich hielt die Geschichten über den „fürchterlichen Schneemenschen“ immer für Ammenmärchen, mit denen man ungezogenen Kindern Angst einjagen wollte. Und deshalb fand ich es auch ziemlich albern, daß angesehene Wissenschaftler und Bergsteiger loszogen, um den Yeti zu suchen. Spuren im Schnee waren nun wirklich leicht herzustellen, und ich konnte mir gut vorstellen, welch eine Wirkung ein zotteliger Yak in der Ferne auf Himalaya-Greenhörner haben kann. Auch die Tatsache, dass die nepalesische Regierung den Schneemenschen auf die Liste der bedrohten Tierarten gesetzt hat, vermochte mich kaum zu beeindrucken.
Ich war also nicht darauf gefasst, bei meinen ersten Reisen in den Himalaya Yetis zu begegnen. Doch im Khumbu bei den Sherpas ist die Legende vom Yeti so lebendig wie nirgendwo sonst im Himalaya. Ich stellte schon bald fest, dass es mir sehr schwerfällt, von der Ernsthaftigkeit und dem Respekt, mit dem diese Menschen von dem Wesen sprachen, unbeeindruckt zu bleiben. Fast alle Sherpas, die ich auf den Yeti ansprach, konnten Geschichten über ihn erzählen. Dabei fiel mir auf, dass diejenigen, die ihm auch begegnet sein wollen, fast ausschließlich alte Männer waren.
Nach einem sehr langen Tag bezogen wir unser Nachtlager in einer Lodge unweit von Namche. Der Besitzer dieser Herberge war ein imposanter alter Sherpa, dem die Finger an den Händen nicht ausreichten, um aufzuzählen, welche Bergriesen er schon bestiegen hatte. Er war einer von den legendären Sherpas, die den großen Expeditionen zu den Achttausendern des Khumbu in den fünfziger und sechziger Jahren zum Erfolg verhalfen. Mit dem Geld, welches er auf seinen zahlreichen Expeditionen verdiente, baute er sich dann die Lodge, in der wir uns einquartiert hatten. Nach einer stürmischen Nacht brach ein wunderschöner Morgen an, und wir setzten uns draußen vor das Haus, um das großartige Panorama zu genießen. Wir hatten es nicht eilig. Anders als die meisten, die hier unterwegs sind, saßen wir nur da, schauten und schlürften unseren Tee. Das schien dem alten Mann zu gefallen, und so setzte er sich zu uns. Er sprach hervorragend Englisch. Wir unterhielten uns stundenlang über seine Expeditionen, über die Touristen, die Berge und auch über den Yeti. Und als ich dort saß und ihm zuhörte, wäre mir nie auch nur einen Augenblick der Gedanke gekommen, an dem, was er sagte, zu zweifeln. Er war nicht der Mann, der seine abergläubischen Phantasien schilderte. Dieser Sherpa glaubte nicht an den Yeti. Er wußte, daß es ihn gab, denn er war ihm begegnet.
Übrigens beneide ich ihn wirklich darum, denn ich brauche keine fünf Sekunden, dann habe ich meine Kamera schussbereit. Solche Begegnungen mit Leuten, die mit größter Ausführlichkeit über ein Zusammentreffen mit diesem Geschöpf berichten, hatte ich inzwischen schon viele. Der jüngste Vorfall mit einem Yeti im Khumbu hat sich angeblich vor einigen Jahren in dem Dorf Machermo im Tal von Gokyo zugetragen. Dabei soll der Schneemensch eine Yakhirtin verletzt und fünf ihrer Tiere getötet haben. Im allgemeinen halten die Sherpas den Yeti aber für harmlos. Er fürchtet das Feuer, deshalb könne man ihn leicht vertreiben.
Als keineswegs schlüssige Beweise für die Existenz des Yeti werden Funde von Haaren, Exkrementen und geheimnisvolle Fotografien seiner Spuren angeführt. Schon 1887 berichteten westliche Besucher von solchen merkwürdigen Fußspuren. Seit 1921 allerdings ist der geheimnisvolle Schneemensch auf der ganzen Welt bekannt. In diesem Jahr startete unter Colonel Howard-Bury die erste britische Expedition zum Mount Everest. Auf dem Lhapka-Paß in über 6000 Meter Höhe bemerkten die Bergsteiger durch das Fernglas ein paar dunkle Gestalten, die aufrecht durch ein Schneefeld stapften. Als die Männer die Stelle erreichten, fanden sie riesige Fußspuren, dreimal so groß wie die eines Menschen. Die berühmtesten Spuren fand die britische Erkundungsexpedition am Everest unter Eric Shipton 1951. Dr. Ward, ein Mitglied dieser Expedition, beschrieb die damals aufgefundenen Spuren folgendermaßen: „Wir waren ungefähr 5500 bis 5800 Meter hoch und näherten uns dem unteren Teil des Menlung-Gletschers. Einige der Spuren, die wir sahen, waren gut ausgetreten, andere waren ziemlich undeutlich. Ihre Zahl ließ vermuten, daß sie von mehreren Tieren herrührten. Sie hielten sich mehr oder weniger in der Mitte des Gletschers, und wir folgten ihnen etwa 400 Meter. Die Fußabdrücke im Schnee waren 30 bis 35 Zentimeter lang und ungefähr 15 Zentimeter breit. Fünf ausgeprägte Zehen sind sichtbar, wobei der zweite die anderen an Länge deutlich überragt“.
Könnte der Yeti vielleicht ein Verwandter eines riesigen menschenähnlichen Lebewesens sein, welches die Wissenschaftler Gigantopithecus nennen und dessen versteinerte Überreste in Südchina und Indien gefunden wurden? Wäre es nicht möglich, daß die Frühmenschen, die bereits das Feuer benutzten und Steinwaffen schwangen, dieses Tier immer weiter in die Berge trieben, bis es dort genügend Schutz fand und bis heute noch findet? Eine andere Erklärung, die ich persönlich für viel vernünftiger halte, gab der Erstbesteiger des Everest Edmund Hillary übrigens Jahrzehnte bevor Reinhold Messner ebenfalls zu dieser epochalen Erkenntnis kam. Hillary ist der Überzeugung, daß Bären, die gelegentlich auch in Gebieten oberhalb der Schneegrenze anzutreffen sind, für die Fußspuren verantwortlich sind. Der Pfotenabdruck, der sich vergrößert, wenn der Schnee in der Sonne schmilzt, wäre eine plausible Erklärung für die übergroßen Fußabdrücke.
Wie dem auch sei, ich wünsche dem Yeti, sollte er denn wirklich existieren, dass ihn auch in Zukunft niemals ein Mensch, mich eingeschlossen, wirklich vor das Kameraobjektiv bekommt oder auf andere Art seine Existenz beweisen kann. Denn sollte das passieren, dann hat unser fürchterlicher Schneemensch die längste Zeit Fußspuren im Schnee hinterlassen.